Prof.
Dr. Dr. Hans Peter Dürr, Global Challenges Network
Heiko Kauffmann, Sprecher von Pro Asyl
Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Universität
Osnabrück
Frank Uhe, Geschäftsführer der IPPNW
Offener
Brief als Antwort auf das Manifest
"Gerechter
Krieg gegen den Terror"
von
60 US-amerikanischen Intellektuellen
"Eine
Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders
aus"
(
pdf.version)
Sehr
geehrte Damen und Herren,
der
Massenmord durch das terroristische Attentat am 11.
September in Ihrem Land und der Krieg der USA in Afghanistan
als Reaktion auf diesen Terror betrifft auch Europa, die
islamische Welt und unser aller Zukunft. Es ist uns
besonders wichtig, dass weltweit unter Intellektuellen der
Zivilgesellschaften über die Ursachen und Folgen dieser
Ereignisse ein offener und kritischer Dialog zu ihrer
Bedeutung und Bewertung stattfindet. Verstehen Sie bitte
unsere Antwort auf Ihr Manifest "Gerechter Krieg gegen den
Terror" als einen Beitrag in diesem Sinne.
Für
den entsetzlichen Massenmord am 11. September gibt es keine
moralische Rechtfertigung.
Darin
stimmen wir Ihnen uneingeschränkt zu. Wir teilen auch
die von Ihnen zu Grunde gelegten moralischen
Maßstäbe, dass Menschenwürde,
unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe und Religion,
unantastbar ist, dass das Streben nach Demokratie ein
wichtiges Fundament für den Schutz der
Menschenwürde, der individuellen Freiheiten, der
Religionsfreiheit und der in der UN-Charta festgelegten
Menschenrechte ist.
Doch
genau diese moralischen Werte, die für uns universale
Gültigkeit haben, veranlassen uns, auch den Krieg, den
Ihre Regierung und ihre Verbündeten, uns
eingeschlossen, in der Anti-Terror-Allianz in Afghanistan
führen und dem bisher über 4000 unbeteiligte
Menschen, darunter viele Kinder und Frauen, zum Opfer
gefallen sind, mit derselben Schärfe abzulehnen, wie
wir den Massenmord an den unbeteiligten Menschen durch den
Terroranschlag verurteilen. Es gibt keine universal
gültigen Werte, die es erlauben, einen Massenmord mit
einem weiteren Massenmord zu rechtfertigen. Der Krieg der so
genannten Antiterror-Allianz in Afghanistan ist kein
"gerechter Krieg" - ein unglückseliger historischer
Begriff, den wir nicht akzeptieren -, er verletzt selbst die
von Ihnen angeführte Bedingung "Unschuldige vor
sicherem Leid zu bewahren" in krasser Form.
Demokratische
Staaten verfügen über hinreichend entwickelte
rechtsstaatliche Mittel, um Verbrechen innerhalb ihres
Einflussbereiches zu bekämpfen und um Schuldige zur
Rechenschaft zu ziehen. Es gilt, diese erprobten Mittel in
enger Zusammenarbeit mit anderen Staaten global zu
erweitern.
Uns
ist es unverständlich, dass Sie in Ihrem Aufruf
über den Massenmord an der afghanischen
Zivilbevölkerung als Folge des mit den modernsten
Waffensystemen geführten Bombenkrieges kein einziges
Wort verlieren. Die Unantastbarkeit der Würde des
Menschen gilt nicht nur für Menschen in den Vereinigten
Staaten, sondern
auch für Menschen in Afghanistan, ja sogar für die
Taliban und die Al-Qaeda-Gefangenen auf Guantanamo. Sie
beschwören in Ihrem Aufruf die Universalität Ihrer
moralischen Maßstäbe, machen diese gleichzeitig
aber nur für sich geltend. Durch diesen selektiven
Gebrauch stellen Sie gerade deren universale Gültigkeit
drastisch in Frage und lassen so über die
Ernsthaftigkeit des eigenen Bekenntnisses größte
Zweifel aufkommen. Wie sollen die aus anderen Kulturkreisen
diesen moralischen Maßstäben gegenüber
vorgebrachten Zweifel ausgeräumt werden können,
wenn ausgerechnet die Eliten US-amerikanischer Zivilisation,
die sich als Verfechter und Hüter dieser Werte
begreifen, den Glauben an die Universalität dieser
Werte in Verruf bringen? Müssen nicht andere Nationen
und Kulturkreise die Anwendung von zweierlei
Maßstäben als Ausdruck einer bis zur Gegenwart
andauernden Arroganz und Ignoranz des Westens wahrnehmen?
Auch
können wir Ihnen angesichts der erdrückenden Last
der historischen Tatsachen nicht folgen, wenn Sie schreiben,
Ihr Land habe nur "zu gewissen Zeiten . . . eine
fehlgeleitete und ungerechte Politik verfolgt". Die
Vereinigten Staaten haben für die Befreiung Europas vom
Joch des Nationalsozialismus einen hervorragenden Beitrag
geleistet. Als führende Supermacht während der
Blockkonfrontation haben sie jedoch auch große
Verantwortung für schwer wiegende Fehlentwicklungen in
der Welt auf sich geladen. Durch zahlreiche
geheimdienstliche bis direkt militärische
Interventionen, so z. B. in Iran, Indonesien, Chile,
Guatemala, El Salvador, Nicaragua, im Iran-Irak-Krieg auf
der irakischen Seite und an vielen anderen Stellen, haben
die Vereinigten Staaten Regime unterstützt, die durch
Staatsterrorismus und millionenfachen Mord an
Oppositionskräften regierten und
Demokratisierungsprozesse verhinderten. Nicht selten fielen
frei gewählte Regierungen diesen Interventionen zum
Opfer.
Viele
der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieser
Stellungnahme hatten gehofft, nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion würde eine neue Ära der
Abrüstung, der Völkerverständigung, des
Dialogs der Kulturen und der Hoffnung für Milliarden
von durch Hunger und Krankheit Not leidenden und
gedemütigten Menschen beginnen. Wir erwarteten und
setzten uns dafür ein, dass die westlichen
Industriestaaten nach vier Jahrzehnten des Hasses, der
gegenseitigen Bedrohung und des Wettrüstens ihre
schöpferischen Potenziale in den Dienst der
Überwindung von Armut, Umweltzerstörung und der
Entfaltung von Demokratie stellten. Diese Erwartungen wurden
jedoch enttäuscht. Die Vereinigten Staaten
konzentrierten vielmehr ihre Fantasie sowie ihre
wissenschaftlich-technischen und ökonomischen
Kapazitäten darauf, ihre Position als die einzig
verbliebene Supermacht in der Welt zu festigen und eine
unipolare Weltordnung zu etablieren. In ihr versuchen sie,
weitgehend in eigener Machtvollkommenheit über das
Schicksal von Völkern zu entscheiden. Viele Indizien,
wie beispielsweise die systematische Errichtung von
amerikanischen Militärbasen auf dem Balkan, im
Mittleren Osten und in Zentralasien erhärten diese
Einschätzung.
In
diesem Sinne erscheinen Analysen plausibel, nach denen die
Vereinigten Staaten, entgegen offiziellen Verlautbarungen,
im Mittleren Osten und in Zentralasien, einschließlich
Afghanistan, nicht in erster Linie humanitäre Ziele
verfolgen, den Terrorismus bekämpfen oder der
Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln vorbeugen wollen,
sondern sich vielmehr von geostrategischen Motiven leiten
lassen. Durch ihren Zugriff auf die für die
Weltwirtschaft existenziellen Ölquellen dieser Region
und auf die Öltransportrouten erhöhen die
Vereinigten Staaten tatsächlich in beträchtlichem
Ausmaß ihre geostrategischen Optionen, um ihre
Hegemonialposition nicht nur gegen die angeschlagene
Supermacht Russland und die aufsteigende Regionalmacht
China, sondern auch gegen Europa und Japan für die
nächsten Jahrzehnte zu festigen.
Trotz
der Differenzen über derartige Einschätzungen
stimmen wir alle darin weitestgehend überein, dass die
Konzentration von ungeheuren Machtpotenzialen in einem
einzigen Land der Welt und die militärische
Fähigkeit, anderen den eigenen Willen aufzwingen zu
können, eine wichtige Quelle der Instabilität von
grenz- und kulturüberschreitenden Beziehungen ist. Sie
ist auch eine Quelle des Ohnmachtsgefühls und der
Demütigung für vor allem jene Menschen geworden,
die sich als Opfer dieser Machtungleichheit empfinden. Die
Anwesenheit von amerikanischen Soldaten in Reichweite
islamischer Heiligtümer in Saudi-Arabien z. B., die von
vielen Moslems offensichtlich als ein Stachel im eigenen
Fleisch und als Angriff auf die eigene Kultur und das
Selbstwertgefühl empfunden wird, symbolisiert die als
bedrohlich empfundene Machtungleichheit. Die als ungerecht
wahrgenommene eigene Unterlegenheit ruft affektive
Enthemmungen hervor und mobilisiert ein ungeheures
Reaktionspotenzial bis zur Bereitschaft, auch das eigene
Leben durch Selbstmordattentate zu opfern. Derartige
Reaktionen als Folge der Instabilität der Machtbalance
in der gegenwärtig unipolaren Weltordnung sind nicht
kulturspezifisch. Sie könnten in jedem anderen Teil der
Welt und zu jedem anderen Zeitpunkt in neuer Form
ausgelöst werden. Ein Krieg der Überlegenen gegen
die Selbstmordattentate der Unterlegenen ist ein
Anachronismus. Er entfesselt Hemmungen und mobilisiert, wie
im Israel-Palästina-Konflikt, noch größere
Bereitschaft zu terroristischen Anschlägen und
terroristischen Militäreinsätzen. Die
gegenwärtige Globalisierung, die soziale Ungleichheiten
verschärft und kulturelle Differenzierungen
zerstört, trägt ihren Teil zu den
Instabilitäten und Spannungen bei, die sich in
gewaltträchtigen Reaktionen entladen.
Mit
Sorge beobachten wir, dass führende
Persönlichkeiten aus dem Umfeld Ihres Präsidenten
immer offensiver den Europäern totalen Gehorsam
gegenüber Amerika abverlangen und erpresserisch
jegliche Kritik aus Europa mit Äußerungen wie
"Europa braucht Amerika, Amerika braucht aber Europa nicht"
im Keim ersticken wollen. Die "uneingeschränkte
Solidarität" unserer und manch anderer
europäischer Regierungen zu den Vereinigten Staaten und
ihre Bereitschaft, den Antiterror-Krieg kritiklos
mitzutragen, wird hier von vielen Menschen als
Entmündigung und Schwäche empfunden. Die
politische Klasse in Europa hat offensichtlich nicht
begriffen, dass sie mit ihrer Unterwürfigkeit
gegenüber der übermächtigen und einzigen
Supermacht nicht nur eine perspektivlose Politik macht,
sondern auch noch für die Agitation rechtsradikaler
Kräfte ein günstiges Klima erzeugt. Zu unserem
eigenen Bedauern haben Regierungen der EU-Staaten bisher
auch versäumt, eine eigenständige
EU-europäische Außen-, Sicherheits- und
Friedenspolitik für den Nahen und Mittleren Osten sowie
für Zentralasien und für ihre Beziehungen zur
islamischen Welt zu entwickeln, die auf Kooperation, auf
Unteilbarkeit der Menschenwürde und der Menschenrechte
beruht. Ja, es ist sogar zu befürchten, dass sie auf
Grund ihrer Konzeptionslosigkeit und trotz ihrer Kritik
letztlich auch bereit sein könnten, einen
amerikanischen Krieg gegen Irak moralisch zu legitimieren
oder gar aktiv mitzutragen.
Als
Besorgnis erregend empfinden viele von uns den wachsenden
Einfluss fundamentalistischer Kräfte in den Vereinigten
Staaten auf die politische Elite Ihres Landes, der
unverkennbar auch vor dem Weißen Haus nicht Halt
macht. Die Aufteilung der Welt in Gut und Böse, die
Stigmatisierung ganzer Staaten samt ihrer Bevölkerungen
ist dazu geeignet, rassistischen, nationalistischen und
religiösen Fanatismus zu schüren, die Menschen
ihrer Fähigkeit zu differenzierter Wahrnehmung der
lebendigen Wirklichkeit und der Einsicht zu berauben, dass
Andersartigkeit und kulturelle Vielfalt kein Unglück,
sondern einen Segen für alle darstellen und dass das
Wohlergehen auch der Mächtigsten dieser Erde auf Dauer
davon abhängt, die Welt als ein Ganzes zu sehen, deren
Reichtum und Schönheit in den Unterschieden besteht.
Fundamentalismus beginnt damit, die eigene Kultur als die
einzig wahre, einzig gute und schöne zu erklären.
Fundamentalistische Reaktionen auf reale Konflikte unserer
Welt verschließen unsere Augen vor zivilen und
gewaltfreien Lösungen dieser Konflikte und setzen die
Eskalation zwischen Terrorismus und Krieg erst recht in
Gang.
Mit
Bestürzung haben wir von unseren amerikanischen
Freunden und Kolleginnen auch vernommen, dass Gelehrte und
Journalisten unter Druck gesetzt und als Verräter
denunziert werden, wenn sie den Kriegskurs ihrer Regierung
kritisch betrachten oder ablehnen. Sorgen Sie dafür,
dass der Meinungspluralismus in Ihrem Land nicht unter dem
Vorwand der Terrorismusbekämpfung beeinträchtigt
wird. Helfen Sie mit, dem Vormarsch des fundamentalistischen
Geistes in den Vereinigten Staaten Einhalt zu gebieten. Die
amerikanischen Werte, auf die Sie sich mit Stolz beziehen,
stehen auf dem Prüfstand.
Zur
Bekämpfung der terroristischen Selbstmordattentate gibt
es sicherlich verschiedene Wege.
Unsere
Meinungen gehen darüber auseinander. Wir alle sind
jedoch zutiefst davon überzeugt, dass die Achtung der
Menschenwürde eine Grundvoraussetzung für alle
Lösungswege darstellt. Nur wenn weltweit und bei den
ökonomisch und militärisch schwächeren
Nationen und Kulturkreisen die Auffassung einkehrt, dass der
Westen als der ökonomisch und militärisch
mächtigste Kulturkreis es mit der Universalität
der Menschenwürde ernst meint, dass diese nicht eine
bloße Floskel ist, von der je nach Bedarf Gebrauch
gemacht wird, nur dann erhöht sich die Chance, dass
terroristische Selbstmordattentate nicht die beabsichtigte
Resonanz erfahren, sondern in allen Ländern auf
vehemente Ablehnung stoßen. Erst wenn die
Schwächeren dieser Welt sich in der Auffassung sicher
wissen, dass kein auch noch so mächtiger Staat ihre
Würde verletzen, sie demütigen und ihre
Lebensbedingungen willkürlich beeinträchtigen
wird, erst dann schöpfen diese Menschen Kraft und
Bereitschaft, ihre Augen und Herzen für die moralischen
Werte anderer Kulturen zu öffnen. Erst dann sind auch
die Voraussetzungen dafür gegeben, dass ein echter
Dialog zwischen den Kulturen in Gang kommt.
Wir
brauchen moralisch begründete, weltweit akzeptable und
allseits geachtete gemeinsame Spielregeln im Zusammenleben
der Menschen, welche die Kooperation anstelle von
Konfrontation in den Vordergrund rücken und den durch
die beschleunigte Veränderung der Lebenswelt und die
ständig wachsenden Gewaltpotenziale erzeugten
Bedrohungsängsten sowie den daraus resultierenden
Sicherheitsbedürfnissen der Menschen den Boden
entziehen. Damit eröffnen sich Möglichkeiten, die
vornehmlich auf wirtschaftliche Belange orientierte
Globalisierung gerechter zu gestalten, die weltweite Armut
wirksam anzugehen, gemeinsam die globalen Umweltrisiken zu
entschärfen, Konflikte mit friedlichen Mitteln zu
meistern und eine Weltkultur zu schaffen, die nicht in
einer, sondern in sehr vielen Sprachen reden kann.
Wir
rufen Sie auf, über diese und andere Perspektiven
für unser aller Zukunft mit uns und mit den
Intellektuellen aus anderen Teilen der Welt in einen offenen
Dialog einzutreten.
Emanzipation
Humanum,
Version 05. 2002 - Kritik, Anregungen zu Form und Inhalt,
Dialog sowie unveränderter Nachdruck bei Quellenangabe
und Belegexemplar erwünscht. Übersetzung in andere
Sprachen erwünscht, Kürzungen und Änderungen
nach Absprache möglich
http://emanzipationhumanum.de/deutsch/1welt01.html
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