Schön,
wenn Kapitalparteien "erschöpft"
wären
ALTERNATIVEN
- Eine interventionsfähige soziale
Gegenmacht
Jutta
Ditfurth
vom
22.10.1999 aus Freitag,
Die Ost-West-Wochenzeitung, Politik, Diskurs, Kultur,
Literatur
Parteien
"erschöpft"? Törichte Kategorie. Schön, wenn
Rotgrün für den ersten deutschen Angriffskrieg
nach der Befreiung vom NS-Faschismus zu "erschöpft"
gewesen wäre. Zu "erschöpft", um mit der
Relativierung von Auschwitz den Krieg zu legitimieren. Zu
"erschöpft", um mit Rentenkürzungen und
Sozialdemontage die Massenarmut von morgen zu
organisieren.
In
einer kapitalistischen Gesellschaft - sprich:
"parlamentarischen Demokratie" - handelt jede Regierung im
Interesse der stärksten(n) und modernste(n)
Fraktione(n) des Kapitals. Auch die rotgrüne Regierung.
Das schließt Widersprüche mit ein.
Eine
zentrale Funktion des bürgerlichen Staates ist die
Befriedung sozialen Widerstandes. Die klassischen Methoden
sind Repression und Integration. Staatliche Verfolgung und
Erschöpfung durch Intensivierung der
(Reproduktions-)Arbeit für die einen. Für die
anderen Staatsämter, Kommerz und die Love-Parade als
modernes Schützenfest.
SPD
und Grüne werden von manchen Linken noch für
"Linke" gehalten (was ist dann rechts?). Wer zum Beispiel
die "Unattraktivität der politischen Kaste" beklagt,
trifft mit seiner Kritik nur die Form und hat seinen linken
Verstand verloren. Kritik auf diesem Niveau läßt
sich mit gut aussehenden, intelligenten, ihr Programm
überzeugt vertretenden Faschisten logisch
befriedigen.
"Wir
meinen's nicht persönlich", sagt das Kapital, "so sind
wir nun einmal." Der Widerspruch von Kapital und Arbeit ist
ein konstituierender Widerspruch für diese
Gesellschaft. Die innerste Triebkraft des Kapitals ist der
Profit. Dafür will es möglichst ungehemmt an die
beiden "Springquellen" (Marx) allen Reichtums: die
menschliche Arbeit und die Natur und will diese seinen
Verwertungsinteressen unterwerfen. Wer links sein will, wird
begreifen müssen, dass der Kapitalismus nicht
reformierbar ist. Das ist keine Frage von Moral, sondern von
Erkenntnis.
Zu
den größten Erfolgen des Kapitals gehört,
dass seine Medien den Menschen eingeredet haben, dass
gespart werden muss. Rotgrüne Sprache verändert
sich auf Orwellsche Weise: Jeden Angriff auf die
Schwächsten und jeden Freifahrtschein für weitere
Naturzerstörung nennt man "Reform". Die einstige
alternative Kategorie der "Selbstverantwortung" bedeutet aus
rotgrünem Mund heute, dass die Versicherungen sich
freuen dürfen: Rotgrün verschafft ihnen viele neue
zusätzliche private Altersversicherungsverträge.
Wir sollen begreifen, dass wir im Alter kein Recht auf eine
Rente haben, die ein würdiges Leben sichert. Weil
angeblich immer weniger junge Arbeitende für immer mehr
Alte sorgen müssen und so weiter und so fort. Selbst
sogenannte Linke plappern diesen Schrott nach. Manche
lügen, weil sie die herrschenden Verhältnisse
nicht in Frage stellen wollen. Weil sie angenehm von ihnen
leben. Oder weil sie Angst vor Veränderungen
haben.
Der
Mensch schafft durch Arbeit Werte (variables Kapital). Die
Produktivität der Arbeit wächst unter anderem
dadurch, dass er Maschinen schafft und anwendet (konstantes
Kapital). In den Maschinen steckt so menschliche Arbeit. Die
organische Zusammensetzung des Kapitals wächst, das
heißt das konstante zu Lasten des variablen Kapitals.
20 RentnerInnen steht nicht ein einzelner Arbeitender
gegenüber, den die maßlosen Ansprüche der
Alten fertig machen, sondern ein Mensch, die Maschinen und
eine steil angestiegene Arbeitsproduktivität - genug
Reichtum für ein richtig gutes Leben für alle -
wenn die herrschenden Verhältnisse dieses
zuließen. Von dieser Arbeitsproduktivität, von
diesem ungeheuren Reichtum, profitiert das Kapital allein.
Es hat sich seine Parteien und Gewerkschaften so
domestiziert, dass sie seine "Standortinteressen" vertreten
als seien es ihre eigenen und sich einbilden, dass - wenn es
dem deutschen Kapital gut geht - hin und wieder ein paar
Brosamen vom Tisch fallen. Dafür lassen sie zu, dass
die Kosten für die sozialen und ökologischen
Schäden, die das Kapital anrichtet (Krebserkrankungen,
Arbeitslosigkeit etc.) auf die Gesellschaft abgewälzt
werden.
Noch
nie zuvor gab es einen deutschen Bundeskanzler, der nicht
nur von sich selbst sagt, er sei "der Bundeskanzler aller
Autos", der einen Krieg führt und schließlich
verkündet, seine vordringliche Aufgabe sei es, "die
Interessen der deutschen Wirtschaft gegen die Forderungen
der Zwangsarbeiter zu schützen". Kein Mitglied der
rotgrünen Regierung oder einer der Regierungsparteien
hat diese deutschnationale und antisemitische
Ungeheuerlichkeit kritisiert. Die Abhängigkeit einer
Regierung von Kapitalinteressen so enthemmt zu zeigen, ist
neu. Helmut Kohl war diskreter.
Eine
interventionsfähige soziale Gegenmacht fehlt. Sie
hätte mindestens die Funktion von Notwehr: zu
verhindern, dass sich die soziale Lage der Menschen
verschlechtert, und dafür zu sorgen, dass sie sich wo
immer möglich verbessert. Im besten Fall führt
soziale Gegenmacht über die herrschenden
Verhältnisse hinaus und hilft, indem sie zur sozialen
Revolution transformiert werden kann, die Ausbeutung des
Menschen und die Zerstörung der Natur
abzuschaffen.
Die
linken Grünen von 1980 wussten um die
Anpassungszwänge, die die Parteibildung in einer
kapitalistischen Gesellschaft mit sich bringt. Dagegen
installierten sie basisdemokratische Bremsen gegen
Rechtsentwicklung, Opportunismus und Korruption: Trennung
von Amt und Mandat, Diätenbegrenzung, Rotation. Diese
Regeln funktionierten - deshalb wurden sie
abgeschafft.
Parteien
sollen Basisproteste filtern und Klassenkämpfe
vermeiden. Die Strukturen von Parteien und Parlamenten
verändern die in ihnen wirkenden Individuen mehr als
umgekehrt. Für emanzipatorische Zwecke lassen sich
Parlamente nur unter bestimmten Bedingungen nutzen; die
Exekutive, das heißt Regierungen, höchstens in
Umwälzungsphasen, wenn linke und linksradikale
Oppositionelle mit antikapitalistischen Interessen
hineingehen, emanzipatorische Gegenstrukturen mitnehmen und
wenn sie loyal mit linken, antikapitalistischen Kämpfen
verbunden sind.
Ein
menschenwürdiges Leben ist nur in einer Gesellschaft
ohne Lohnarbeit, Geld und Waren vorstellbar - eine
Gesellschaft, die Gebrauchsgüter herstellt, ohne diese
Herstellung asketisch-zwanghaft zu regulieren, aber auch
ohne das grenzenlose Wachstum des kapitalistischen
Wirtschaftens mit seinem Zwang zu Konkurrenz, Egoismus und
Ellenbogengesellschaft.
Mögen
also bürgerliche Parteien und Regierungen
möglichst "erschöpft" sein. Das macht unseren
Kampf leichter: gegen Ausbeutung und soziale Ungleichheit,
gegen Naturzerstörung, gegen patriarchale
Unterdrückung, gegen Faschismus, Rassismus - und darin
dem Antisemitismus -, gegen die mörderische
kapitalistische Weltordnung und gegen die nächsten
imperialistischen Kriege, die das rotgrüne
Großdeutschland mit "Menschenrechten" oder
"Ökokatastrophen" zu rechtfertigen versuchen
wird.
Emanzipation
Humanum,
Version 1.11.99, Kritik, Anregungen zu Form und Inhalt,
Dialog sowie unveränderter Nachdruck bei Quellenangabe
und Belegexemplar erwünscht. Übersetzung in andere
Sprachen erwünscht. Kürzungen und Änderungen
nach Absprache möglich.
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