Ziviler
Mut
-
Eine demokratische Tugend entdecken
Die
Umwandlung von Angst in zivilcouragiertes
Handeln
Kurt
Singer
(pdf.format)
Vortrag
vom 25. 1. 2003 anläßlich des Politischen
Samstagsgebets, Kirche St.Ignatius, München,
veranstaltet von Friedensinitiativen, Umweltgruppen,
kirchlichen Gruppen: Friedensinitiative Christen
in der Region", Bund Naturschutz, GEW, Greenpeace, Pax
Christi, Frauenliga für Frieden und Freiheit,
Mütter gegen Atomkraft, Refugio, Ziviler
Friedensdienst, Bürgerinitiative Menschliches
München und anderen.
Ist
Zivilcourage ein Wunder"? - Gegen den Strom
schwimmen
Zivilcourage:
Sophie wagte sozialen Mut bereits mit neun Jahren. Sie ging
mit ihrer Schwester Elisabeth in die gleiche Schulklasse.
Ihr Lehrer versetzte die Kinder willkürlich auf
bestimmte Plätze - ihren Leistungen entsprechend. Dabei
wurde Sophies Schwester ausgerechnet an ihrem Geburtstag
einen Platz heruntergestuft. Der Lehrer setzte Elisabeth zur
Strafe in die letzte Bank. Diese Demütigung
empörte Sophie. Sie stand auf, ging festen Schrittes
zum Lehrer vor und protestierte: Meine Schwester hat
heute Geburtstag, die setze ich wieder hinauf!" Sie fasste
Elisabeth entschlossen beim Arm und führte sie an den
alten Platz. Ziviler Mut:
Nein sagen zum Unrecht, auch wenn es von oben"
kommt.
Nicht schweigen, wenn ein anderer
gedemütigt wird.
Mut zu Kritik finden.
Protestieren, wenn Schwache benachteiligt
werden.
Der
Pfarrer und Lyriker Kurt Marti zählt Zivilcourage zu
den Wundem:
gegen
den strom
ist
einer
nicht schon
auf wasser gegangen?
das macht ihm
keiner nach
jedoch
dass du
eine nicht-schwimmerin
gegen den strom schwimmst
ist kein geringeres wunder
Den
Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen - Aus
der Zementmauer der Unmöglichkeit Möglichkeiten
heraus schlagen"
Die
neunjährige Sophie, die das Wunder" des zivilen
Muts wirkte, war Sophie Scholl. Sie riskierte ein Jahrzehnt
später ihr Leben im Aufruhr gegen Hitler und wurde zum
Tode verurteilt. In einem Flugblatt der Widerstandsgruppe
Die weiße Rose" schrieb sie: Zerreißt
den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz
gelegt habt. Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt,
wird keiner anfangen!" - Den Mantel der
Gleichgültigkeit zerreißen": das ist tragendes
Motive für sozialen Mut. Man darf nicht nur
dagegen sein", schrieb Sophie Scholl, man muss etwas
tun und an der Zementmauer der Unmöglichkeit versuchen,
kleine Möglichkeiten heraus zu schlagen." Eine Stelle
aus dem Jakobus-Brief galt ihr als Maxime: ,Seid Täter
des Wortes - nicht Hörer allein.'
Sophie
wuchs in einem toleranten Elternhaus auf. Die Meinung der
Kinder wurde respektiert, die Eltern ermutigten sie, nicht
kritiklos hinzunehmen, was Erwachsene sagen. In der Familie
wurde viel über Politik und Bücher gesprochen.
Die Gedanken sind frei!" hörte Sophie von ihrem
Vater. Der stand aufrecht zu seiner Meinung über die
Nazis. Als er deshalb ins Gefängnis musste, stellte
sich Sophie an Sommerabenden an die Gefängnismauer; sie
spielte ihrem Vater auf der Flöte das Lied, das Symbol
für beide war: Die Gedanken sind
frei."
Heute
setzen wir nicht unser Leben aufs Spiel, wenn wir
politisch-moralischen Widerstand gegen Kriegspläne des
amerikanischen Präsidenten leisten, oder wenn wir gegen
eine Sicherheitspolitik" demonstrieren, die durch
Rüstung und Militärstrategie die Welt unsicher
macht. Aber bestraft werden können wir dennoch, auch in
den Vereinigten Staaten, einem Land, das sich demokratisch
nennt. Eine zivilcouragierte Ordensschwester setzt sich
für den Frieden ein, malt Plakate mit Friedenstauben,
organisiert Demonstrationen. Unlängst buchte die
75-jährige einen Flug; aber als sie die Maschine
besteigen wollte, verweigerte ihr der Flugsicherheitsdienst
den Zugang: die Dominikanerin stehe wegen ihrer
Friedensaktivität auf der Liste des amerikanischen
Geheimdienstes: als gefährliche Person"; sie darf
nicht mehr fliegen. - Wer seine moralische Kraft gegen einen
gefährlichen Krieg einsetzt, wird zur
gefährlichen Person" erklärt. Angesichts
solcher Einschüchterung fällt es nicht leicht, den
Mantel der Gleichgültigkeit zu zerreißen; denn
die Angst, allein zu stehen, ist bedrohlich. Fallen uns
nicht leicht Gründe ein, den Widerspruch zu
unterlassen?
Sozialer
Mut - Den Bruch mit der Gleichgültigkeit
wagen
Erich
Fried: Gründe
Weil
alles nicht hilft
Sie tun ja doch, was sie wollen
Weil
ich mir nicht nochmals
die Finger verbrennen will
Weil
man nur lachen wird:
Auf dich haben sie gewartet
Und
warum immer ich?
Keiner wird es mir danken
Weil
jedes Schlechte
vielleicht auch sein Gutes hat
Weil
ich das lieber
Berufeneren überlasse
Weil
man nie weiß
wie einem das schaden kann
Weil
sich die Mühe nicht lohnt
weil sie alle das gar nicht wert sind
Wer
so denkt, verliert die eigene Lebendigkeit. Wie können
wir die zurück gewinnen und in Anteilnahme verwandeln?
Immer ist es der Bruch mit der Gleichgültigkeit",
den wir zivilcouragiert wagen müssen: den Bruch mit der
Gleichgültigkeit angesichts einer gigantischen Zahl von
Menschenvernichtungsmittel, die für den weltweit
drohenden Anti-Terrorkrieg bereitstehen, angesichts
kapitalistischer Globalisierung, die Menschen in Not bringt,
angesichts drohender Klima-Katastrophen, verseuchter
Flüsse und Meere, verpesteter Luft... Der Bruch mit der
Gleichgültigkeit aber auch: angesichts einer
gedemütigten Büroangestellten, die ihr Chef vor
den andern ungerecht herabsetzt, oder des hilflosen Kindes,
das vom Lehrer ausgelacht wird, oder zweier
ausländischer Frauen, die beschimpft werden.
Die
Angst, allein zu stehen - Tapferkeit vor dem
Freund"
Frau
W. schildert den Konflikt zwischen der Furcht, sich
einzumischen und dem Wunsch, ihrer moralischen
Empfindsamkeit zu folgen: Ich stand vor der Kasse des
Einkaufsmarkts, vor mir warteten zwei Türkinnen. Eine
Kundin begann laut über die Ausländer' zu
schimpfen: Die Kanaken sollte man nach Hause schicken,
sie nehmen uns die Arbeit weg, belagern unsere Wohnungen,
und überhaupt, wie dreckig die sind...' Ein Schwall
entwertender Vorurteile brach sich Bahn. Andere Kundinnen
nickten beifällig oder schwiegen.
Ich
war innerlich empört, mir taten die Türkinnen
leid. Aber die Angst, auch beschimpft zu werden, verschloss
mir den Mund. Ich fürchtete, allein gegen alle da zu
stehen. Zudem erkannte ich unter den wartenden Frauen
Nachbarn; das ängstigte mich besonders. Ich wollte es
nicht mit Leuten verderben, mit denen ich täglich zu
tun habe. Aufgeregt zögerte ich, hörte mein Herz
klopfen und spürte meinen trockenen Mund. Da fasste ich
doch Mut und redete zaghaft dazwischen: Ich hab gute
Erfahrungen mit Türken gemacht, das sind doch Menschen
wie wir; ich finde es ungerecht, sie so zu beleidigen.' -
Erstauntes Schweigen; zwei Frauen stimmten mir durch
Kopfnicken zu. Ich war froh, mich zu den Widerworten
durchgerungen zu haben."
Besonders
bedrohlich fand Frau W., dass sie sich von näher
stehenden Menschen mit ihrer Kritik erkennen lassen sollte;
damit setzte sie ihre Zugehörigkeit aufs Spiel. Diesen
sozialen Mut, in der eigenen Gruppe den Widerspruch zu
riskieren, nennt Ingeborg Bachmann Tapferkeit vor dem
Freund". In ihrem Gedicht Alle Tage" schreibt
sie:
Der
Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzone gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen
Er
wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtbeachtung
jeglichen Befehls.
Hirn-amputierten
Befehlsgebern" folgen, statt eigenständig denken und
Widerspruchsmut zeigen?
Ein
Lehrer wagte die Tugenden, die Ingeborg Bachmann preist:
Die Nichtbeachtung jeglichen Befehls" und die
Tapferkeit vor dem Freund". Herr F. widersetzte sich
der kinderfeindlichen Vorschrift, in seiner Klasse Noten
nach der Normalverteilung zu vergeben: sehr wenig Einser,
etwas mehr Zweier, viele Dreier und Vierer, wenig
Fünfer, noch weniger Sechser. Wenn ich diese
Anweisung befolge, muss ich Schlechte herstellen'. Ich
muss Kinder nach Vorschrift kränken, zumal die
Schwächeren" denkt er. - Die zehntausendfach befolgte
Vorschrift, Ziffernnoten so zu verteilen, ist Wahnwitz; denn
das Zufallsgesetz der Normalverteilung gilt nicht für
den Unterricht; denn der ist kein Zufallsgeschehen.
Außerdem trifft die Wahrscheinlichkeitsverteilung nach
der Gauß'schen Glockenkurve nicht für
dreißig Kinder zu, schon gar nicht für eine
geistige Leistung.
Weshalb
genieren sich intelligente Menschen nicht, Millionen Eltern,
Hunderttausende Lehrer, sich ein so unvernünftiges
Handeln vorschreiben zu lassen? Sie schalten ihren Verstand
aus, um gehorsam Unrecht zu tun. Den Unrechtscharakter
erkennen viele nicht mehr, weil es sich um Normalität
handelt, um die Pathologie der Normalität". Was
sich Lehrer, Eltern und Schüler zumuten lassen,
erinnert an eine Mitteilung der Expertin für Bio-Ethik,
Christiane von Weizsäcker. Sie schreibt von der
bedrückenden Vorstellung, das Experiment eines
Neurophysiologen könnte sich auch für die
menschliche Gesellschaft als gültig
erweisen:
Der
Nerven-Forscher untersuchte das Schwarmverhalten von
Fischen. Dazu nahm er aus einem Fischschwarm einen Fisch
und unterbrach in ihm die Verbindung zum Großhirn.
Er wollte sehen, ob der gehirn- amputierte Fisch sich
noch im Schwarm halten kann. Was geschah? Dieser Fisch,
frei von Mitwelt-Wahrnehmung, ohne Rücksicht und
Vorsicht, schwamm ungebremst ziellos in schnellem
Zickzack umher - und: - der ganze Schwarm folgte ihm! Das
unvernünftige Verhalten des hirnlosen Fisches, so
könnte man denken, machte auf den Schwarm den
Eindruck, er wisse, wo's lang geht. Wenn ich mir
unsere Gesellschaft anschaue", kommentiert Christiane von
Weizsäcker, wenn ich mir unsere Gesellschaft
anschaue, kommt mir immer häufiger der Verdacht, die
Mehrheit folgt denen mit amputierter eingeschränkter
Wahrnehmung.
Mit
Krachen in die Tiefe"? - Ohne sozialen Ungehorsam gibt es
keinen Fortschritt
Der
Befehl, den Mächtigen mit amputierter Wahrnehmung zu
gehorchen, begegnet allen Menschen, auch Lehrer F.. Er
begeisterte die Schüler am Unterrichtsprojekt
Unser Wald" für naturkundliches Denken. Auf
Unterrichtsgängen beobachteten sie Tiere,
experimentierten und mikroskopierten. In Gruppen
wählten sie Themen wie Der Ameisenstaat",
Das Waldsterben", Das Kyoto-Protokoll, damit
Kinder auch künftig noch Luft zum Atmen haben - und was
es für die Wälder bedeutet". Die Schüler
lernten eifrig, schrieben bei der Leistungskontrolle
kenntnisreiche Arbeiten, ernteten gute Noten und freuten
sich über ihren Wissenszuwachs. Herr F. wurde jedoch
gerügt: der Notendurchschnitt sei zu gut, er müsse
die Zensuren drücken. Dieser Anordnung widersetzte er
sich mit zivilem Mut. Aber es ängstige ihn, im
Kollegium aus der Reihe zu tanzen und Sympathien zu
verlieren.
Er
machte sich sachkundig und referierte über das Unrecht
, das Schülern durch diese Willkür
widerfährt. Das hatte Folgen; auch andere schlossen
sich der Kritik an: Kein Lehrer der Schule sollte
künftig in seiner Verantwortung für die
Schülerleistung eingeschränkt werden. Herrn F.s
mutiger Tabu-Bruch brachte Denkbewegung in seine Umgebung. -
Ohne sozialen Ungehorsam gibt es keinen Fortschritt: nicht
in Wissenschaft und Politik, nicht in Kirche und
Gesellschaft. Mit wert-erfülltem Widerspruchsmut
widerstehen wir der Gefahr, die Christa Wolf so
ausdrückt: Wer sich in einer verkehrten Welt
einrichtet, wird selbst verkehrt." - Richten wir uns in
einer verkehrten Welt der Atombombe ein? Der
ökologischen Katastrophen, des unzivilisierten
Kapitalismus? Der Zerstörung unserer Mitwelt? - Bertolt
Brecht, Exil III:
Sie
sägten die Aste ab, auf denen sie
saßen
Und schrieen sich zu ihre Erfahrungen
Wie man schneller sägen konnte, und fuhren
Mit Krachen in die Tiefe, und die ihnen zusahen
Schüttelten die Köpfe beim Sägen
und
Sägten weiter.
Viele
Menschen müssten aus ihrer Privatheit heraus treten und
sich für eine bessere Welt engagieren. Vielleicht
könnten wir dann verhindern, fern-sehenden Auges in
atomare Vernichtung und ökologische
Selbstzerstörung zu treiben.
Politisch-moralischer
Protest - Vermächtnis eines Physikers für eine
bessere Welt
Manche
Verbesserung für eine heilere Welt begann mit dem
Engagement zivilcouragierter Bürger. Sie schlossen sich
zu Initiativen zusammen und wirkten als Minderheit in die
Mehrheit der Politik hinein. Auf diesem Weg begann in
Deutschland der Ausstieg aus der Atomenergie. Ein
Wegbereiter war Wladimir Tschernousenko. Er erhob mit der
Tapferkeit des Herzens politischmoralischen Protest
von unten" gegen die Atomenergie. Als
wissenschaftlicher Leiter der Aufräumarbeiten nach der
Katastrophe in Tschernobyl erstellte er einen Bericht
über Tausende von Menschenleben, die der Reaktorunfall
forderte, über Hunderttausende, die den
mörderischen Strahlenfeldern ausgesetzt waren und durch
politische Fehlentscheidungen in den langsamen Strahlentod
geschickt wurden. Er berichtete, wie nicht nur Menschen
sterben, sondern auch die Natur stirbt. - Die Regierung
weigerte sich jedoch, die Ergebnisse zu
veröffentlichen. Trotz der Einschüchterung stand
der Atomforscher zu seiner wissenschaftlichen und humanen
Überzeugung: die Atomkraft sei die
lebensgefährlichste Umweltbedrohung unserer Zeit. Wegen
seines bürgermutigen Engagements wurde er aus dem
Institut für Physik in Kiew entlassen und lebte fortan
in Deutschland.
Der
Fünfzigjährige war selbst strahlenverseucht.
Deshalb wusste er um seine begrenzte Lebenszeit. Diese
widmete er der Aufgabe, den Betrug der Atomindustrie zu
entlarven: ohne Atomkraft gingen die Lichter aus",
Nuklearenergie sei saubere" Energie und billig. Er
deckte die Lüge auf, atomare Energie-Erzeugung sei
sicher" und beschrieb mit großer Sachkenntnis
die Alternativen: als deren wichtigste die Sonnenenergie.
Wladimir Tschernousenko setzte bis zuletzt sein Wissen,
seine leidvolle Erfahrung und seine Menschenliebe ein. Er
starb inzwischen an der Strahlenkrankheit. Sehr bewegt
ließ er von der Katastrophe Betroffene zu Wort kommen:
Irgendwo im Himmel wurde ein Becher Gift ausgegossen.
Es fiel wie schwarzer Regen auf die rauchende Stadt." - Aber
wer fällt jenen in den Arm, die das Gift
ausgießen? Das Gift des Machtstrebens, das Gift des
Krieges? Bertolt Brecht in Der gute Mensch von
Sezuan":
Findet
die Menschheit durch Gehorsam ihr Ende? - Was lässt uns
Stand halten?
Oh,
ihr Unglücklichen!
Euerm Bruder wird Gewalt angetan, und ihr kneift
die Augen zu!
Der Getroffene schreit laut auf, und ihr
schweigt?
Der Gewalttätige geht herum und wählt
seine Opfer
Und ihr sagt: uns verschont er, denn wir zeigen
kein Missfallen.
Was ist das für eine Stadt, was seid ihr
für Menschen!
Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein
Aufruhr sein
Und wo kein Aufruhr ist, da ist es besser, dass die
Stadt untergeht
Durch ein Feuer, bevor es Nacht wird!
Bertolt
Brecht
Steht
uns das Feuer bevor, weil wir kein Missfallen zeigen und den
Aufruhr nicht wagen? Erich Fromm befürchtet, die Erde
könnte am Gehorsam zu Grund gehen; er schreibt:
Im alttestamentlichen Bericht von Adam und Eva begann
die Menschheit mit einem Akt des Ungehorsams. Damit mussten
Menschen den Schritt in Unabhängigkeit und Freiheit
wagen. In der Epoche atomarer Drohung ist es nicht
unwahrscheinlich, dass die Menschheit mit einem Akt des
Gehorsams ihr Ende findet. Denn: Technisch leben wir im
Atomzeitalter, aber emotional und moralisch in der Vorzeit."
Ungehorsam. könnte lebens-rettend sein?
Aber
was hilft Menschen, mit Bürgermut aus der Reihe zu
tanzen und gegen die herrschende Politik aufzubegehren? Ich
stellte vielen mutigen Bürgern diese Frage. Bei aller
Vielfalt der Antworten trat ein leitendes Merkmal hervor:
die überzeugte Orientierung an menschlichen
Grundwerten: Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft,
Ehrfurcht, Gerechtigkeit. Zivilcourage ist kein Verhalten,
keine Technik, sondern eine Tugend. Aus humanen und
religiösen Wertvorstellungen heraus wächst die
Kraft, sich für das Gute einzusetzen. Menschen mit
sozialem Mut denken und fühlen sich in andere ein. Sie
verwandeln ihr Mitleid in Zorn und Hilfsbereitschaft.
Für Jean-Jacques Rousseau manifestiert sich die allen
gemeinsame Menschennatur nicht in der Vernunft, sondern im
Mitleid: in einem eingeborenen Widerwillen, einen
Mitmenschen leiden zu sehen. Die Offenheit für andere
ist Vorbedingung der Menschlichkeit. Sie motiviert dazu,
Autoritätsangst, Konfliktscheu und
Anpassungsbereitschaft zu überwinden.
Die
Sisyphus-Arbeit sozial mutiger Menschen -
Fröhliche Steine-Wälzer"?
Eine
couragierte Frau erzählt: Ich lerne für
Mut-Situationen Sprüche auswendig, an denen halte ich
mich fest, um den aufrechten Gang zu bewahren, etwa aus dem
Alten Testament:
Sprich
dein Wort klar und frei (Jesus Sirach 4,
22-23)
Schäme
dich nicht, zu sagen,
was dein Herz für recht hält.
Denn man kann auf eine Art ängstlich sein,
dass man Unrecht dabei tut.
Richte dich nicht nach Menschen gegen deine
Oberzeugung.
Lass dich nicht drängen, in ein Unrecht zu
fallen.
Wenn es nötig ist, dann sprich dein Wort klar
und frei.
Denn durch das Bekenntnis wird die Wahrheit
deutlich und das Recht.
Sisyphus
könnte Schutzheiliger" zivilcouragierter Menschen
sein. Er wälzt den Stein auf den steilen Berg, obwohl
er weiß: der Felsblock rollt wieder zurück. Aber:
Sisyphus behauptet trotzig, er sei glücklich mit seinem
Stein. Jedenfalls meint Albert Camus, wir könnten
fröhliche Steine-Wälzer sein. Die wissen um die
Vergeblichkeit - und sagen dennoch Ja zum Einspruch. Also
wälzen wir unseren Fels freudig mit zivilem Mut? Auch
wenn er immer neu auf uns zurollt: in der Friedensbewegung,
im Umweltschutz, in Bürgerinitiativen für eine
bessere Welt", im täglichen Engagement für
die Würde des Menschen, um Gewaltfreiheit. Leisten wir
Widerstand an der Stelle, an den wir ihn zu leisten
vermögen. Remco Campert:
Widerstand
Widerstand
fängt nicht mit großen Worten an
sondern mit kleinen Taten
wie
der Sturm mit leisem Rascheln im Garten
wie
breite Flüsse
mit einer kleinen Quelle
versteckt im Wald
wie
Liebe mit einem Blick
einer Berührung
etwas das auffällt in der Stimme
sich selber eine Frage stellen
damit fängt Widerstand an
und
dann einem andern die Frage stellen
Mit
Politik als praktifizierter Sittlichkeit" die Erde zum
Paradies machen?
Ein
Vorbild für zivilen Mut ist der tschechische
Schriftsteller Vaclav Havel. Er blieb humanen
Überzeugungen treu, auch als er, lebensgefährlich
erkrankt, jahrelang im Gefängnis leiden musste. Seine
Haltung drückt er so aus: Ich spüre die
Verantwortung, mich für das einzusetzen, was ich
für gut und richtig halte. Ob es mir hin und wieder
gelingt, etwas zum Besseren zu wenden, oder ob es mir
überhaupt nicht gelingt, etwas zu verändern,
weiß ich nicht. Ich lasse beide Möglichkeiten zu.
Ich lasse nur eines nicht zu: dass es grundsätzlich
keinen Sinn mache, das Gute anzustreben."
Jene
Menschen, die sich nicht für Politik geeignet halten,
fordert Vaclav Havel auf, sich gerade der Politik
anzunehmen: Wenn jemand bescheiden ist und nicht nach
Macht strebt, ist er nicht etwa ungeeignet, sich der Politik
zu widmen, sondern gehört im Gegenteil in sie hinein.
Es stimmt nicht, dass ein Politiker notwendigerweise
intrigieren muss. Die Voraussetzung für Politik ist
nicht die Fähigkeit zu lügen. In der Politik
können nicht nur gefühllose Zyniker bestehen.
Diese alle, das ist wahr, zieht Politik an. Aber letztlich
wird sich menschliche Politik durchsetzen: Politik als
praktizierte Sittlichkeit." Politik als praktizierte
Sittlichkeit" wäre ein Politikverständnis, das
eine neue Ethik des Zusammenlebens ermöglichte.
Vielleicht könnten wir dann durch zivilen Mut an Stelle
der Militärmacht" eine Zivilmacht"
schaffen? Und Staatsmänner ließen sich nicht mehr
von einer Kompanie bewaffneter Soldaten in
militärischen Ehren empfangen: das Gewehr
präsentierend und im Parade-Stechschritt absoluten
Gehorsam demonstrierend; sondern: Staatsmänner
ließen sich in zivilen Ehren empfangen; vielleicht von
einer Friedensgruppe. - Kann Zivilcourage Berge versetzen?
Ich, als bereitwilliger Steine-Wälzer, ich antworte mit
Erich Kästner:
Die
Erde
soll früher einmal
ein Paradies gewesen sein.
Möglich ist alles.
Die
Erde
könnte wieder
ein Paradies werden.
Alles ist möglich.
Hinweis:
Im Frühjahr 2003 erscheint im Ernst Reinhardt Verlag
die Neuausgabe des Buches: Kurt Singer: Zivilcourage
wagen - Wie man lernt, sich einzumischen. 204
Seiten
Emanzipation
Humanum,
Version 01. 2003 , Kritik, Anregungen zu Form und Inhalt,
Dialog sowie unveränderter Nachdruck bei Quellenangabe
und Belegexemplar erwünscht. Übersetzung in andere
Sprachen erwünscht. Kürzungen und Änderungen
nach Absprache möglich.
http://emanzipationhumanum.de/deutsch/singer.html
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