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Ziviler Mut

- Eine demokratische Tugend entdecken

Die Umwandlung von Angst in zivilcouragiertes Handeln

Kurt Singer

(pdf.format)

Vortrag vom 25. 1. 2003 anläßlich des Politischen Samstagsgebets, Kirche St.Ignatius, München, veranstaltet von Friedensinitiativen, Umweltgruppen, kirchlichen Gruppen: „Friedensinitiative Christen in der Region", Bund Naturschutz, GEW, Greenpeace, Pax Christi, Frauenliga für Frieden und Freiheit, Mütter gegen Atomkraft, Refugio, Ziviler Friedensdienst, Bürgerinitiative Menschliches München und anderen.

Ist Zivilcourage ein „Wunder"? - Gegen den Strom schwimmen

Zivilcourage: Sophie wagte sozialen Mut bereits mit neun Jahren. Sie ging mit ihrer Schwester Elisabeth in die gleiche Schulklasse. Ihr Lehrer versetzte die Kinder willkürlich auf bestimmte Plätze - ihren Leistungen entsprechend. Dabei wurde Sophies Schwester ausgerechnet an ihrem Geburtstag einen Platz heruntergestuft. Der Lehrer setzte Elisabeth zur Strafe in die letzte Bank. Diese Demütigung empörte Sophie. Sie stand auf, ging festen Schrittes zum Lehrer vor und protestierte: „Meine Schwester hat heute Geburtstag, die setze ich wieder hinauf!" Sie fasste Elisabeth entschlossen beim Arm und führte sie an den alten Platz. Ziviler Mut:

• Nein sagen zum Unrecht, auch wenn es „von oben" kommt.
• Nicht schweigen, wenn ein anderer gedemütigt wird.
• Mut zu Kritik finden.
• Protestieren, wenn Schwache benachteiligt werden.

Der Pfarrer und Lyriker Kurt Marti zählt Zivilcourage zu den Wundem:

gegen den strom

ist einer
nicht schon
auf wasser gegangen?
das macht ihm
keiner nach

jedoch
dass du
eine nicht-schwimmerin
gegen den strom schwimmst
ist kein geringeres wunder

Den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen - „Aus der Zementmauer der Unmöglichkeit Möglichkeiten heraus schlagen"

Die neunjährige Sophie, die das „Wunder" des zivilen Muts wirkte, war Sophie Scholl. Sie riskierte ein Jahrzehnt später ihr Leben im Aufruhr gegen Hitler und wurde zum Tode verurteilt. In einem Flugblatt der Widerstandsgruppe „Die weiße Rose" schrieb sie: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt habt. Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keiner anfangen!" - „Den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen": das ist tragendes Motive für sozialen Mut. „Man darf nicht nur dagegen sein", schrieb Sophie Scholl, „man muss etwas tun und an der Zementmauer der Unmöglichkeit versuchen, kleine Möglichkeiten heraus zu schlagen." Eine Stelle aus dem Jakobus-Brief galt ihr als Maxime: ,Seid Täter des Wortes - nicht Hörer allein.'

Sophie wuchs in einem toleranten Elternhaus auf. Die Meinung der Kinder wurde respektiert, die Eltern ermutigten sie, nicht kritiklos hinzunehmen, was Erwachsene sagen. In der Familie wurde viel über Politik und Bücher gesprochen. „Die Gedanken sind frei!" hörte Sophie von ihrem Vater. Der stand aufrecht zu seiner Meinung über die Nazis. Als er deshalb ins Gefängnis musste, stellte sich Sophie an Sommerabenden an die Gefängnismauer; sie spielte ihrem Vater auf der Flöte das Lied, das Symbol für beide war: „Die Gedanken sind frei."

Heute setzen wir nicht unser Leben aufs Spiel, wenn wir politisch-moralischen Widerstand gegen Kriegspläne des amerikanischen Präsidenten leisten, oder wenn wir gegen eine „Sicherheitspolitik" demonstrieren, die durch Rüstung und Militärstrategie die Welt unsicher macht. Aber bestraft werden können wir dennoch, auch in den Vereinigten Staaten, einem Land, das sich demokratisch nennt. Eine zivilcouragierte Ordensschwester setzt sich für den Frieden ein, malt Plakate mit Friedenstauben, organisiert Demonstrationen. Unlängst buchte die 75-jährige einen Flug; aber als sie die Maschine besteigen wollte, verweigerte ihr der Flugsicherheitsdienst den Zugang: die Dominikanerin stehe wegen ihrer Friedensaktivität auf der Liste des amerikanischen Geheimdienstes: als „gefährliche Person"; sie darf nicht mehr fliegen. - Wer seine moralische Kraft gegen einen gefährlichen Krieg einsetzt, wird zur „gefährlichen Person" erklärt. Angesichts solcher Einschüchterung fällt es nicht leicht, den Mantel der Gleichgültigkeit zu zerreißen; denn die Angst, allein zu stehen, ist bedrohlich. Fallen uns nicht leicht Gründe ein, den Widerspruch zu unterlassen?

Sozialer Mut - Den Bruch mit der Gleichgültigkeit wagen

Erich Fried: Gründe

Weil alles nicht hilft
Sie tun ja doch, was sie wollen

Weil ich mir nicht nochmals
die Finger verbrennen will

Weil man nur lachen wird:
Auf dich haben sie gewartet

Und warum immer ich?
Keiner wird es mir danken

Weil jedes Schlechte
vielleicht auch sein Gutes hat

Weil ich das lieber
Berufeneren überlasse

Weil man nie weiß
wie einem das schaden kann

Weil sich die Mühe nicht lohnt
weil sie alle das gar nicht wert sind

Wer so denkt, verliert die eigene Lebendigkeit. Wie können wir die zurück gewinnen und in Anteilnahme verwandeln? Immer ist es der „Bruch mit der Gleichgültigkeit", den wir zivilcouragiert wagen müssen: den Bruch mit der Gleichgültigkeit angesichts einer gigantischen Zahl von Menschenvernichtungsmittel, die für den weltweit drohenden Anti-Terrorkrieg bereitstehen, angesichts kapitalistischer Globalisierung, die Menschen in Not bringt, angesichts drohender Klima-Katastrophen, verseuchter Flüsse und Meere, verpesteter Luft... Der Bruch mit der Gleichgültigkeit aber auch: angesichts einer gedemütigten Büroangestellten, die ihr Chef vor den andern ungerecht herabsetzt, oder des hilflosen Kindes, das vom Lehrer ausgelacht wird, oder zweier ausländischer Frauen, die beschimpft werden.

Die Angst, allein zu stehen - „Tapferkeit vor dem Freund"

Frau W. schildert den Konflikt zwischen der Furcht, sich einzumischen und dem Wunsch, ihrer moralischen Empfindsamkeit zu folgen: „Ich stand vor der Kasse des Einkaufsmarkts, vor mir warteten zwei Türkinnen. Eine Kundin begann laut über die ‚Ausländer' zu schimpfen: ‚Die Kanaken sollte man nach Hause schicken, sie nehmen uns die Arbeit weg, belagern unsere Wohnungen, und überhaupt, wie dreckig die sind...' Ein Schwall entwertender Vorurteile brach sich Bahn. Andere Kundinnen nickten beifällig oder schwiegen.

Ich war innerlich empört, mir taten die Türkinnen leid. Aber die Angst, auch beschimpft zu werden, verschloss mir den Mund. Ich fürchtete, allein gegen alle da zu stehen. Zudem erkannte ich unter den wartenden Frauen Nachbarn; das ängstigte mich besonders. Ich wollte es nicht mit Leuten verderben, mit denen ich täglich zu tun habe. Aufgeregt zögerte ich, hörte mein Herz klopfen und spürte meinen trockenen Mund. Da fasste ich doch Mut und redete zaghaft dazwischen: ‚Ich hab gute Erfahrungen mit Türken gemacht, das sind doch Menschen wie wir; ich finde es ungerecht, sie so zu beleidigen.' - Erstauntes Schweigen; zwei Frauen stimmten mir durch Kopfnicken zu. Ich war froh, mich zu den Widerworten durchgerungen zu haben."

Besonders bedrohlich fand Frau W., dass sie sich von näher stehenden Menschen mit ihrer Kritik erkennen lassen sollte; damit setzte sie ihre Zugehörigkeit aufs Spiel. Diesen sozialen Mut, in der eigenen Gruppe den Widerspruch zu riskieren, nennt Ingeborg Bachmann „Tapferkeit vor dem Freund". In ihrem Gedicht „Alle Tage" schreibt sie:

Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzone gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen

Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtbeachtung
jeglichen Befehls.

„Hirn-amputierten Befehlsgebern" folgen, statt eigenständig denken und Widerspruchsmut zeigen?

Ein Lehrer wagte die Tugenden, die Ingeborg Bachmann preist: „Die Nichtbeachtung jeglichen Befehls" und die „Tapferkeit vor dem Freund". Herr F. widersetzte sich der kinderfeindlichen Vorschrift, in seiner Klasse Noten nach der Normalverteilung zu vergeben: sehr wenig Einser, etwas mehr Zweier, viele Dreier und Vierer, wenig Fünfer, noch weniger Sechser. „Wenn ich diese Anweisung befolge, muss ich ‚Schlechte herstellen'. Ich muss Kinder nach Vorschrift kränken, zumal die Schwächeren" denkt er. - Die zehntausendfach befolgte Vorschrift, Ziffernnoten so zu verteilen, ist Wahnwitz; denn das Zufallsgesetz der Normalverteilung gilt nicht für den Unterricht; denn der ist kein Zufallsgeschehen. Außerdem trifft die Wahrscheinlichkeitsverteilung nach der Gauß'schen Glockenkurve nicht für dreißig Kinder zu, schon gar nicht für eine geistige Leistung.

Weshalb genieren sich intelligente Menschen nicht, Millionen Eltern, Hunderttausende Lehrer, sich ein so unvernünftiges Handeln vorschreiben zu lassen? Sie schalten ihren Verstand aus, um gehorsam Unrecht zu tun. Den Unrechtscharakter erkennen viele nicht mehr, weil es sich um Normalität handelt, um die „Pathologie der Normalität". Was sich Lehrer, Eltern und Schüler zumuten lassen, erinnert an eine Mitteilung der Expertin für Bio-Ethik, Christiane von Weizsäcker. Sie schreibt von der bedrückenden Vorstellung, das Experiment eines Neurophysiologen könnte sich auch für die menschliche Gesellschaft als gültig erweisen:

Der Nerven-Forscher untersuchte das Schwarmverhalten von Fischen. Dazu nahm er aus einem Fischschwarm einen Fisch und unterbrach in ihm die Verbindung zum Großhirn. Er wollte sehen, ob der gehirn- amputierte Fisch sich noch im Schwarm halten kann. Was geschah? Dieser Fisch, frei von Mitwelt-Wahrnehmung, ohne Rücksicht und Vorsicht, schwamm ungebremst ziellos in schnellem Zickzack umher - und: - der ganze Schwarm folgte ihm! Das unvernünftige Verhalten des hirnlosen Fisches, so könnte man denken, machte auf den Schwarm den Eindruck, er wisse, wo's lang geht. „Wenn ich mir unsere Gesellschaft anschaue", kommentiert Christiane von Weizsäcker, „wenn ich mir unsere Gesellschaft anschaue, kommt mir immer häufiger der Verdacht, die Mehrheit folgt denen mit amputierter eingeschränkter Wahrnehmung.

„Mit Krachen in die Tiefe"? - Ohne sozialen Ungehorsam gibt es keinen Fortschritt

Der Befehl, den Mächtigen mit amputierter Wahrnehmung zu gehorchen, begegnet allen Menschen, auch Lehrer F.. Er begeisterte die Schüler am Unterrichtsprojekt „Unser Wald" für naturkundliches Denken. Auf Unterrichtsgängen beobachteten sie Tiere, experimentierten und mikroskopierten. In Gruppen wählten sie Themen wie „Der Ameisenstaat", „Das Waldsterben", „Das Kyoto-Protokoll, damit Kinder auch künftig noch Luft zum Atmen haben - und was es für die Wälder bedeutet". Die Schüler lernten eifrig, schrieben bei der Leistungskontrolle kenntnisreiche Arbeiten, ernteten gute Noten und freuten sich über ihren Wissenszuwachs. Herr F. wurde jedoch gerügt: der Notendurchschnitt sei zu gut, er müsse die Zensuren drücken. Dieser Anordnung widersetzte er sich mit zivilem Mut. Aber es ängstige ihn, im Kollegium aus der Reihe zu tanzen und Sympathien zu verlieren.

Er machte sich sachkundig und referierte über das Unrecht , das Schülern durch diese Willkür widerfährt. Das hatte Folgen; auch andere schlossen sich der Kritik an: Kein Lehrer der Schule sollte künftig in seiner Verantwortung für die Schülerleistung eingeschränkt werden. Herrn F.s mutiger Tabu-Bruch brachte Denkbewegung in seine Umgebung. - Ohne sozialen Ungehorsam gibt es keinen Fortschritt: nicht in Wissenschaft und Politik, nicht in Kirche und Gesellschaft. Mit wert-erfülltem Widerspruchsmut widerstehen wir der Gefahr, die Christa Wolf so ausdrückt: „Wer sich in einer verkehrten Welt einrichtet, wird selbst verkehrt." - Richten wir uns in einer verkehrten Welt der Atombombe ein? Der ökologischen Katastrophen, des unzivilisierten Kapitalismus? Der Zerstörung unserer Mitwelt? - Bertolt Brecht, Exil III:

Sie sägten die Aste ab, auf denen sie saßen
Und schrieen sich zu ihre Erfahrungen
Wie man schneller sägen konnte, und fuhren
Mit Krachen in die Tiefe, und die ihnen zusahen
Schüttelten die Köpfe beim Sägen und
Sägten weiter.

Viele Menschen müssten aus ihrer Privatheit heraus treten und sich für eine bessere Welt engagieren. Vielleicht könnten wir dann verhindern, fern-sehenden Auges in atomare Vernichtung und ökologische Selbstzerstörung zu treiben.

Politisch-moralischer Protest - Vermächtnis eines Physikers für eine bessere Welt

Manche Verbesserung für eine heilere Welt begann mit dem Engagement zivilcouragierter Bürger. Sie schlossen sich zu Initiativen zusammen und wirkten als Minderheit in die Mehrheit der Politik hinein. Auf diesem Weg begann in Deutschland der Ausstieg aus der Atomenergie. Ein Wegbereiter war Wladimir Tschernousenko. Er erhob mit der Tapferkeit des Herzens politischmoralischen Protest „von unten" gegen die Atomenergie. Als wissenschaftlicher Leiter der Aufräumarbeiten nach der Katastrophe in Tschernobyl erstellte er einen Bericht über Tausende von Menschenleben, die der Reaktorunfall forderte, über Hunderttausende, die den mörderischen Strahlenfeldern ausgesetzt waren und durch politische Fehlentscheidungen in den langsamen Strahlentod geschickt wurden. Er berichtete, wie nicht nur Menschen sterben, sondern auch die Natur stirbt. - Die Regierung weigerte sich jedoch, die Ergebnisse zu veröffentlichen. Trotz der Einschüchterung stand der Atomforscher zu seiner wissenschaftlichen und humanen Überzeugung: die Atomkraft sei die lebensgefährlichste Umweltbedrohung unserer Zeit. Wegen seines bürgermutigen Engagements wurde er aus dem Institut für Physik in Kiew entlassen und lebte fortan in Deutschland.

Der Fünfzigjährige war selbst strahlenverseucht. Deshalb wusste er um seine begrenzte Lebenszeit. Diese widmete er der Aufgabe, den Betrug der Atomindustrie zu entlarven: ohne Atomkraft „gingen die Lichter aus", Nuklearenergie sei „saubere" Energie und billig. Er deckte die Lüge auf, atomare Energie-Erzeugung sei „sicher" und beschrieb mit großer Sachkenntnis die Alternativen: als deren wichtigste die Sonnenenergie. Wladimir Tschernousenko setzte bis zuletzt sein Wissen, seine leidvolle Erfahrung und seine Menschenliebe ein. Er starb inzwischen an der Strahlenkrankheit. Sehr bewegt ließ er von der Katastrophe Betroffene zu Wort kommen: „Irgendwo im Himmel wurde ein Becher Gift ausgegossen. Es fiel wie schwarzer Regen auf die rauchende Stadt." - Aber wer fällt jenen in den Arm, die das Gift ausgießen? Das Gift des Machtstrebens, das Gift des Krieges? Bertolt Brecht in „Der gute Mensch von Sezuan":

Findet die Menschheit durch Gehorsam ihr Ende? - Was lässt uns Stand halten?

Oh, ihr Unglücklichen!
Euerm Bruder wird Gewalt angetan, und ihr kneift die Augen zu!
Der Getroffene schreit laut auf, und ihr schweigt?
Der Gewalttätige geht herum und wählt seine Opfer
Und ihr sagt: uns verschont er, denn wir zeigen kein Missfallen.
Was ist das für eine Stadt, was seid ihr für Menschen!
Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein
Und wo kein Aufruhr ist, da ist es besser, dass die Stadt untergeht
Durch ein Feuer, bevor es Nacht wird!

Bertolt Brecht

Steht uns das Feuer bevor, weil wir kein Missfallen zeigen und den Aufruhr nicht wagen? Erich Fromm befürchtet, die Erde könnte am Gehorsam zu Grund gehen; er schreibt: „Im alttestamentlichen Bericht von Adam und Eva begann die Menschheit mit einem Akt des Ungehorsams. Damit mussten Menschen den Schritt in Unabhängigkeit und Freiheit wagen. In der Epoche atomarer Drohung ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Menschheit mit einem Akt des Gehorsams ihr Ende findet. Denn: Technisch leben wir im Atomzeitalter, aber emotional und moralisch in der Vorzeit." Ungehorsam. könnte lebens-rettend sein?

Aber was hilft Menschen, mit Bürgermut aus der Reihe zu tanzen und gegen die herrschende Politik aufzubegehren? Ich stellte vielen mutigen Bürgern diese Frage. Bei aller Vielfalt der Antworten trat ein leitendes Merkmal hervor: die überzeugte Orientierung an menschlichen Grundwerten: Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Ehrfurcht, Gerechtigkeit. Zivilcourage ist kein Verhalten, keine Technik, sondern eine Tugend. Aus humanen und religiösen Wertvorstellungen heraus wächst die Kraft, sich für das Gute einzusetzen. Menschen mit sozialem Mut denken und fühlen sich in andere ein. Sie verwandeln ihr Mitleid in Zorn und Hilfsbereitschaft. Für Jean-Jacques Rousseau manifestiert sich die allen gemeinsame Menschennatur nicht in der Vernunft, sondern im Mitleid: in einem eingeborenen Widerwillen, einen Mitmenschen leiden zu sehen. Die Offenheit für andere ist Vorbedingung der Menschlichkeit. Sie motiviert dazu, Autoritätsangst, Konfliktscheu und Anpassungsbereitschaft zu überwinden.

Die Sisyphus-Arbeit sozial mutiger Menschen - „Fröhliche Steine-Wälzer"?

Eine couragierte Frau erzählt: „Ich lerne für Mut-Situationen Sprüche auswendig, an denen halte ich mich fest, um den aufrechten Gang zu bewahren, etwa aus dem Alten Testament:

Sprich dein Wort klar und frei (Jesus Sirach 4, 22-23)

Schäme dich nicht, zu sagen,
was dein Herz für recht hält.
Denn man kann auf eine Art ängstlich sein,
dass man Unrecht dabei tut.
Richte dich nicht nach Menschen gegen deine Oberzeugung.
Lass dich nicht drängen, in ein Unrecht zu fallen.
Wenn es nötig ist, dann sprich dein Wort klar und frei.
Denn durch das Bekenntnis wird die Wahrheit deutlich und das Recht.

Sisyphus könnte „Schutzheiliger" zivilcouragierter Menschen sein. Er wälzt den Stein auf den steilen Berg, obwohl er weiß: der Felsblock rollt wieder zurück. Aber: Sisyphus behauptet trotzig, er sei glücklich mit seinem Stein. Jedenfalls meint Albert Camus, wir könnten fröhliche Steine-Wälzer sein. Die wissen um die Vergeblichkeit - und sagen dennoch Ja zum Einspruch. Also wälzen wir unseren Fels freudig mit zivilem Mut? Auch wenn er immer neu auf uns zurollt: in der Friedensbewegung, im Umweltschutz, in Bürgerinitiativen für eine „bessere Welt", im täglichen Engagement für die Würde des Menschen, um Gewaltfreiheit. Leisten wir Widerstand an der Stelle, an den wir ihn zu leisten vermögen. Remco Campert:

Widerstand

Widerstand fängt nicht mit großen Worten an
sondern mit kleinen Taten

wie der Sturm mit leisem Rascheln im Garten

wie breite Flüsse
mit einer kleinen Quelle
versteckt im Wald

wie Liebe mit einem Blick
einer Berührung
etwas das auffällt in der Stimme
sich selber eine Frage stellen
damit fängt Widerstand an

und dann einem andern die Frage stellen

Mit „Politik als praktifizierter Sittlichkeit" die Erde zum Paradies machen?

Ein Vorbild für zivilen Mut ist der tschechische Schriftsteller Vaclav Havel. Er blieb humanen Überzeugungen treu, auch als er, lebensgefährlich erkrankt, jahrelang im Gefängnis leiden musste. Seine Haltung drückt er so aus: „Ich spüre die Verantwortung, mich für das einzusetzen, was ich für gut und richtig halte. Ob es mir hin und wieder gelingt, etwas zum Besseren zu wenden, oder ob es mir überhaupt nicht gelingt, etwas zu verändern, weiß ich nicht. Ich lasse beide Möglichkeiten zu. Ich lasse nur eines nicht zu: dass es grundsätzlich keinen Sinn mache, das Gute anzustreben."

Jene Menschen, die sich nicht für Politik geeignet halten, fordert Vaclav Havel auf, sich gerade der Politik anzunehmen: „Wenn jemand bescheiden ist und nicht nach Macht strebt, ist er nicht etwa ungeeignet, sich der Politik zu widmen, sondern gehört im Gegenteil in sie hinein. Es stimmt nicht, dass ein Politiker notwendigerweise intrigieren muss. Die Voraussetzung für Politik ist nicht die Fähigkeit zu lügen. In der Politik können nicht nur gefühllose Zyniker bestehen. Diese alle, das ist wahr, zieht Politik an. Aber letztlich wird sich menschliche Politik durchsetzen: Politik als praktizierte Sittlichkeit." „Politik als praktizierte Sittlichkeit" wäre ein Politikverständnis, das eine neue Ethik des Zusammenlebens ermöglichte. Vielleicht könnten wir dann durch zivilen Mut an Stelle der „Militärmacht" eine „Zivilmacht" schaffen? Und Staatsmänner ließen sich nicht mehr von einer Kompanie bewaffneter Soldaten in militärischen Ehren empfangen: das Gewehr präsentierend und im Parade-Stechschritt absoluten Gehorsam demonstrierend; sondern: Staatsmänner ließen sich in zivilen Ehren empfangen; vielleicht von einer Friedensgruppe. - Kann Zivilcourage Berge versetzen? Ich, als bereitwilliger Steine-Wälzer, ich antworte mit Erich Kästner:

Die Erde
soll früher einmal
ein Paradies gewesen sein.
Möglich ist alles.

Die Erde
könnte wieder
ein Paradies werden.
Alles ist möglich.

Hinweis: Im Frühjahr 2003 erscheint im Ernst Reinhardt Verlag die Neuausgabe des Buches: Kurt Singer: Zivilcourage wagen - Wie man lernt, sich einzumischen. 204 Seiten

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Emanzipation Humanum, Version 01. 2003 , Kritik, Anregungen zu Form und Inhalt, Dialog sowie unveränderter Nachdruck bei Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht. Übersetzung in andere Sprachen erwünscht. Kürzungen und Änderungen nach Absprache möglich.

http://emanzipationhumanum.de/deutsch/singer.html

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