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Für die Einberufung von Generalständen
der sozialen Bewegung in Europa

 

Dieses Manifest, hervorgegangen aus vielen Diskussionen in den verschiedensten europäischen Ländern während der letzten Jahre, versteht sich als Versuch, die intellektuellen und institutionellen Voraussetzungen für eine Sammlungsbewegung aller kritischen und progressiven Kräfte in Europa ins Leben zu rufen. Es wird zum 1. Mai in Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und anderen Ländern Europas, Lateinamerikas und Asiens veröffentlicht und sollte der Beginn einer großen gemeinsamen Anstrengung sein, Grundsätze für echte politische Alternativen zu einer neoliberalen Politik zu erarbeiten, die sich heute, auch unter sozialdemokratischen Regierungen, immer weiter durchsetzt, und vor allem auch die organisatorischen Rahmenbedingungen für einen gemeinsames Vorgehen gegen diese Politik zu schaffen. Ein erster Schritt dazu wird der während einer Reihe von Arbeitstreffen auszuarbeitende Entwurf einer europäischen Sozialcharta sein, und in den nächsten Monaten dann die Einberufung einer großen Versammlung aller sozialen Bewegungen in Europa.

Alle, die sich für dieses Vorhaben einsetzen wollen, das bereits von vielen Vertretern aus den Gewerkschaften und anderen Organisationen, von Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern unterstützt wird, möchten wir bitten, ihre Unterschrift, auch mögliche Vorschläge und Bemerkungen, über die Adresse www.raisons.org weiterzuleiten. Dort stehen Ihnen weitere Informationen zur Verfügung, unter anderem die vorläufige Liste der Unterzeichner.

Pierre Bourdieu

 

Jene soziale Bewegung, wie sie zumindest in Europa während der letzten Jahre erkennbar wurde, steht vor einer wichtigen Entscheidung. Will sie eine feste, anerkannte und Ernst zu nehmende Größe werden, dann ist es unabdingbar, all die betroffenen Gruppen, zunächst auf europäischer Ebene, in einem noch zu gründenden Netzwerk zu sammeln und miteinander ins Gespräch zu bringen, einem Netzwerk, das in der Lage wäre, diese Kräfte zu bündeln, ihre Ziele aufeinander abzustimmen und schließlich ein gemeinsames Vorgehen zu erarbeiten: Gewerkschaften, die Bewegung der Arbeitslosen, Obdachlosen oder Staatenlosen, Frauengruppen, Homosexuelle, Umweltvereinigungen und viele andere.

Denn diese Bewegungen haben trotz all ihrer Unterschiede, trotz der manchmal bestehenden Meinungsverschiedenheiten, zumindest eines gemeinsam: sie verteidigen jene, die heute von der neoliberalen Politik immer mehr einem ungewissen Schicksal preisgegeben werden, und greifen gleichzeitig all die gesellschaftlichen Probleme auf, die diese Politik dabei zurückgelassen hat. Es sind dies Probleme, die auch und gerade von den sozialdemokratischen Parteien verharmlost oder verdrängt werden, von sozialdemokratischen Regierungen, die sich gegenwärtig vor allem darum bemühen, die bestehende Wirtschaftsordnung zu verwalten und hinter einem letzten Rest staatlicher Handlungsfreiheit verschanzen, und sich dabei immer bedenkenloser mit den wachsenden gesellschaftlichen Ungleichheiten, mit allgemeiner Arbeitslosigkeit und der Prekarisierung ganzer Bevölkerungsgruppen abgefunden haben. Gerade deshalb brauchen wir eine wirkliche kritische Gegenmacht, die imstande ist, diese Probleme immer wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen, durch neue, insbesondere symbolische Formen des Handelns, um immer wieder, wie es auch in Seattle geschehen ist, die grundlegendsten Wünsche der Bürger zum Ausdruck bringen.

Diese kritische Gegenmacht gegen die internationalen Mächte des Marktes muß selbst international sein, und die Europäer können hier einen Anfang machen. Weil es diese Bewegung mit konservativen und restaurativen Kräften zu tun hat, Kräften, die sich insbesondere mit ihren Versuchen eines Abbaus, wenn nicht gar der letztendlichen Zerstörung des "Wohlfahrtsstaates" auf eine Wiederherstellung der Vergangenheit richten, muß sie eine mächtige, bewegende Kraft sein, die erst dann, wie die sozialen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts, Staaten und Regierungen drängen könnte und müßte, wirksame Maßnahmen für eine Kontrolle der Finanzmärkte zu ergreifen und eine gerechtere Verteilung des Reichtums der Nationen, in ihnen und zwischen ihnen durchzusetzen.

Deshalb schlagen wir vor, bis Ende des Jahres 2000 Generalstände der sozialen Bewegungen in Europa einzuberufen, mit dem Ziel, eine gemeinsame Charta auszuarbeiten, und Grundlagen für eine internationale Struktur zu schaffen, die alle möglichen organisatorischen und intellektuellen Formen des Widerstandes gegen die neoliberale Politik bündelt, gleichzeitig aber ihre Unabhängigkeit gegenüber den Parteien und Regierungen, insbesondere gegenüber den Regierungsparteien bewahrt.

Diese Generalstände müßten zunächst einen offenen Austausch über unterschiedliche Vorstellungen und Ziele gesellschaftlicher Veränderung ermöglichen können, die sich alle den gegenwärtig beobachtbaren ökonomischen und sozialen Prozessen (Flexibilisierung, Prekarisierung, Pauperisierung) entgegenstellen und die damit einher gehende Politik der "inneren Sicherheit" bekämpfen, mit der heute fast alle europäischen Regierungen die Auswirkungen dieser Prozesse einzudämmen versuchen. Zweitens sollen sie Gelegenheit geben, dauerhaftere und festere Beziehungen zu knüpfen, die eine schnelle Mobilisierung aller beteiligten Gruppen im Hinblick auf gemeinsame oder aufeinander abgestimmte Aktionen ermöglichen, ohne dabei irgendeine Form zentralistischen Zwangs einzuführen, und ohne den ungeheuren Reichtum zu zerstören, den die einzelnen Gruppen mit ihrer jeweiligen Eigenart und ihrer unterschiedlichen Geschichte in eine solche Bewegung einbringen könnten. Drittens schließlich könnten diese Treffen gemeinsame Ziele für ihre Aktionen auf nationaler und internationaler Ebene ausarbeiten und abstimmen, die alle auf die Schaffung einer solidarischeren Gesellschaft gerichtet sind, deren Grundlage die Anerkennung, Vereinheitlichung und Erweiterung ihrer sozialen Errungenschaften bilden.

Eine solche Sammlung all jener Kräfte, die in ihrem tagtäglichen Kampf gegen die verhängnisvollsten Auswirkungen der neoliberalen Politik ein praktisches Wissen um deren zerstörerisches Potential und die kreativen Möglichkeiten des dagegen aufgebrachten Widerstandes erworben haben, könnte auf diese Weise einen gemeinsamen schöpferischen Prozess in Gang bringen, und so den vielen Menschen, die sich in dieser Welt nicht mehr erkennen, eine realistische Utopie eröffnen, in der sich durchaus manchmal unterschiedliche und eigenständige, aber dennoch auf gemeinsame Ziele hinwirkende Bemühungen im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben wiederfinden und verbünden könnten.

 

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Emanzipation Humanum, Version 6. 2000 , Kritik, Anregungen zu Form und Inhalt, Dialog sowie unveränderter Nachdruck bei Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht. Übersetzung in andere Sprachen erwünscht. Kürzungen und Änderungen nach Absprache möglich.

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