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WTO Millenium Runde :

Eröffnungsgruss, Aufruf für direkte, dezentrale Aktionen

 

Am 30. November 1999 wird in Seattle, USA, die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) unter dem Titel "Millenium Round" eröffnet.

Die WTO bezweckt die "Förderung des Welthandels". Mit anderen Worten: die Multis, mit der Unterstützung der Mitgliedstaaten, redigieren in Seattle die Charta der planetaren Marktordnung; es geht um Regelungen, die eine neue Welle der Expansion und Domination des Weltkapitalismus einleitet. Nicht von ungefähr heisst es, die WTO kenne keine Grenzen des Wachstums. Die neue Ordnung ist bereits heute im Begriff, uns genmanipulierte Nahrung zu bescheren, Erkenntnisse der traditionellen Medizin, ja das Leben selbst zu patentieren, den Regionalhandel zu Gunsten des Agrobusiness zu untergraben und gegen die Sozial- und Umweltgesetzgebungen anzulaufen, unter dem Vorwand, diese stellten wettbewerbsverzerrende Hindernisse für den Welthandel dar.

In Seattle wird noch weiter gegangen. Zur Diskussion steht u.a. die Öffnung der "Märkte" Erziehung und Gesundheit, die gegenwärtig noch von "staatlich hoch subventionierten Institutionen monopolisiert" seien (so die "neoliberal korrekte" Bezeichnung der Öffentlichen Dienste). MacDonald's, MacKultur, MacGesundheit, MacGesetz, MacGefängnis... Es ist unmöglich, diese neue Machtkonzentration mit Werten wie Freiheit, Selbständigkeit, Selbstgenügsamkeit zu vereinbaren. Selbst in unsern mildesten Phantasien lässt sich nicht ausdenken, wie eine Weltregierung diese Werte respektieren könnte oder wollte.

An der Konferenz in Seattle werden auch die Lobbyisten und ehrenwerten Nicht-Regierungsorganisationen (NGO's) teilnehmen, die Vertreter des "Kapitalismus mit menschlichem Antlitz", die freundlichen Verfechter der "Bürger"rechte, sowie die schizofrenen Verkünder einer Weltregierung, die durch nationale Souveränitäten reguliert wird.

Ob sie nun "in" oder "off" sind - die Teilnehmer an diesem Festival der Entmenschlichung wissen, mit wem sie zu rechnen haben, und damit auch, wen sie am meisten zu fürchten haben: den Widerstand der Basis, die Opposition der Menschen gegen die Enteignung ihrer Existenz durch die Vermarktung des Lebens.

Denn diese Leute wissen sehr wohl, dass wir zahlreich, in Seattle und in vielen Ländern, dem Appell des Direct Action Network folgen. Dieser Aufruf wird vom Netz der People's Global Action unterstützt und lädt für den 30. November 1999 zu einem Weltaktionstag ein. Wir hauchen der alten Losung neues Leben ein:

Enteignen wir die Enteigner!

Gruppe "und paff!"

 

Die Aktion: Heute, 16.11.1999, haben 27 Personen den Hauptsitz der WTO in Genf besetzt. TeilnehmerInnen einer Führung durch das WTO-Gebäude haben sich in der Haupthalle bei der Treppe angekettet, die zum Büro von Generaldirektor Michael Moore führt, und haben ein Transparent entrollt mit der Aufschrift " Ni Organisation, ni Commerce : Autogestion ! " ("KeineOrganisation, kein Business : Selbstbestimmung ! "). Ein zweite Gruppe, die die Sicherheitskontrollen austrickste, besetzte das Dach des Gebäudes und spannte zwei Transparente auf : " WTO kills people - kill the WTO ! " und "Moore aux tyrans " (abgeleitet vom alten Slogan " Mort aux Tyrans - Tod den Tyrannen "). Eine der BesetzerInnen hat mit einer Web-Cam die Bilder live ins Internet eingespeist, ein anderer faxte das Communiqué der Aktion von einem Büro der WTO aus in alle Redaktionsstuben. Nach mehr als zwei Stunden räumte die Polizei nach Verhandlungen mit einem WTO-Funktionär die BesetzerInnen, ohne sie zu verhaften oder deren Identität festzustellen. Die Direktion der WTO wollte offensichtlich vermeiden, dass eine Kriminalisierung der AktivistInnen dem Widerstand gegen die WTO noch mehr Solidarität und Popularität verschaffen würde.

(englisch) (spanisch)

Hier also die erste Ausgabe des Seattle Daily v. 28.11.1999.

Noch herrscht Ruhe in Seattle, aber überall werden Vorbereitungen getroffen, sowohl für die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) selbst, als auch für die Protestaktionen. Ich werde ab jetzt eine Woche lang täglich aus Seattle berichten. Im ersten Teil werde ich euch/Ihnen aktuelles aus Seattle berichten, ein zweiter Teil enthält Hintergrundinformationen über einzelne Verhandlungspunkte. Außerdem kann man die Informationen im Internet aufrufen unter: (www.Ilka.org)

Montesquieu adieu, lang lebe der Sonnenkönig!

Ludwig XIV. würde wahrscheinlich beim Lesen der WTO-Richtlinien vor Freude in die Hände klatschen, denn vom Sonnenkönig selbst stammt der Satz "L'Etat, c'est moi!". Allerdings lebte er im 17. Jahrhundert, seitdem haben sich die Menschen mit vielen Opfern die Demokratie erkämpft. Ein Meilenstein in der Geschichte isthierbei die Erreichung der Gewaltenteilung in gesetzgebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt. Montesquieu - seines Zeichens Theoretiker und Verfechter der Gewaltenteilung - würde sich angesichts der WTO-Befugnisse wohl im Grabe umdrehen.

Am Anfang war das GATT

Die Welthandelsorganisation (WTO) ging aus dem seit 1948 bestehenden Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) hervor. Ursprünglich war das GATT ein Abkommen zum internationalen Abbau von Einfuhrzöllen, zur internationalen Regelung der nationalen Handelspolitiken und zur Liberalisierung des Weltmarktes. Die letzte von acht Verhandlungsrunden zur weiteren Ausdehnung begann 1986 in Uruguay ("Uruguay-Runde") und endete 1993 mit der Abschlußerklärung von Marrakesch. Ein Ergebnis der Uruguay-Runde ist die Gründung der WTO, welche in den vergangenen Jahren zu einer der mächtigsten, internationalen Institutionen herangewachsen ist. Mit der WTO verfügt die Industrie nun endlich über ein Instrument, um allen - nunmehr auf Objekte des Handelsverkehrs reduzierten - menschlichen Tätigkeiten ihre Regeln vorzuschreiben.

Die Jahrtausend-Runde will Konzernherrschaft etablieren

Vordergründig sieht es so aus, daß die WTO nur den Handel bestimmt. Dies ist allerdings schwerwiegender und umfassender in seinen Auswirkungen, da sie damit in immer größerem Ausmaß die Lebensbedingungen jedes einzelnen von uns beeinflußt. Egal ob es sich um den Ernährungsbereich, um den Handel mit Dienstleistungen, um Investitionen, Patente, Kulturgüter oder Umweltstandards handelt, nichts geht ohne die WTO und ihre allmächtigen Fadenzieher im Hintergrund, die Industrielobbyisten. Nationale Gesetze werden, falls sie dem Freihandel im Wege stehen, ausgehebelt, WTO-Recht bricht jedes andere Recht, auch wenn das z.B. die Senkung von Gesundheitsstandards, Verbraucherschutz oder Umweltrichtlinien bedeutet. Besonders mit der sogenannten Meistbegünstigunsklausel ist ihr ein mächtiges Instrument zum Schutz der Interessen der Konzerne zur Seite gestellt worden: sie besagt, daß alle Handelsvorteile, die ein WTO-Mitgliedsstaat einem anderen Land (ob WTO-Mitglied oder nicht) gewährt, auch auf alle anderen WTO-Staaten anzuwenden sind - und zwar "unverzüglich und bedingungslos". In der Praxis verbietet diese Klausel einen Boykott von unsozial, unökologisch oder menschenverachtend hergestellten Produkten.

Da die WTO über keine Gewaltenteilung verfügt, unterliegt sie auch keinerlei demokratischen Kontrollen. Genau diese ist aber von zentraler Bedeutung, um die Dominanz der Wirtschaft zu verhindern. Mit dem voraussehbaren Effekt, daß die Konzerne die Kontrolle übernehmen, haben die Regierungen sich die Verantwortung abkaufen lassen. Was bleibt ist eine grenzenlose Konzernherrschaft. Und das, obwohl es um nichts geringeres als z.B. die Beilegung von Handelsstreitigkeiten zwischen den Mitgliedsstaaten geht.

Geld regiert die Welt

Hierzu wurde die WTO mit weitgehenden Machtbefugnissen ausgestattet. Urteile, die vom WTO-Schiedsgericht in einem Streitfall zwischen Mitgliedstaaten gefällt werden, müssen im Sinne der Genfer Richter auf nationaler und internationaler Ebene umgesetzt werden, auch wenn das eine Verwässerung nationaler Gesetze bedeutet. Dieses Gericht besteht aus Wirtschaftsexperten, die außer den Regeln des Freihandels keine anderen sozialen, ökologischen oder rechtlichen Gesichtspunkte in Betracht ziehen. Natürlich wird jedem Staat das Recht zur Klage eingeräumt. Dieser Prozeß ist allerdings so geld- und zeitintensiv, daß die sogenannten Entwicklungsländer meist nicht einmal Klage erheben. Es geht also nicht um gleiche Rechte sondern offensichtlich um das Recht des finanziell Stärkeren. Auch deshalb bezeichnete die «Financial Times» die WTO gemeinsam mit der Weltbank und dem IMF als «de facto Weltregierung», konstituiert, um den Interessen von transnationalen Unternehmen, Banken und Investmentfirmen zu dienen in einem «neuen imperialistischen Zeitalter».

Die Ministerkonferenz in Seattle soll eine dreijährige neue Verhandlungsrunde einleiten, an deren Ende neue Verträge stehen sollen, um für die Konzerne den Welthandel weiter zu vereinfachen, Märkte zu öffnen, den Handel hemmende Zölle und Subventionen zu verbannen, einheitliche Produktionsnormen und Herstellungsstandards festzulegen sowie eine Liberalisierung von Direktinvestitionen und des öffentlichen Beschaffungswesens auszuhandeln. Bis jetzt sieht es allerdings nicht so aus, als ob es während der Ministerkonferenz zu konkreten Ergebnissen kommen könnte. Die 134 Mitgliedsstaaten können sich noch nicht einmal auf eine Tagesordnung für Seattle einigen, da sie über beinahe jedes potentielle Thema zerstritten sind.

Ein Scheitern von Seattle wäre allemal ein Erfolg: die Regierungen hätten endlich Zeit, sich nicht nur von der Industrielobby einschläfern und einkaufen zu lassen, sondern die Prinzipien der WTO generell in Frage zu stellen, die katastrophalen Auswirkungen der letzten fünf Jahre zu bilanzieren sowie wichtige Alternativen zur Konzernherrschaft zu etablieren.

 

Seattle Daily Nr.2 v. 29.11.1999

Am Vorabend des WTO-Treffens in Seattle, die offizielle Konferenz hat noch nicht begonnen, zeichnet sich bereits ab, daß dies ein besonderer Gipfel wird. Die ersten Protestaktionen und inoffiziellen Veranstaltungen, Diskussionsforen und Treffen finden bereits statt. Als Willkommens-Gruß seilten sich einige Personen von einer Autobahnbrücke ab und enthüllten ein Anti-WTO-Transparent. Auffällig ist die Stimmung in großen Teilen der Bevölkerung. In Seattle selbst halten viele Menschen nicht viel von der WTO, ihren Zielen und der stattfindenden Ministerkonferenz. In den Tourismus-Läden werden T-Shirts mit dem Aufdruck "No to WTO" angeboten. Die Stadt ist übersäht von Anti-WTO-Plakaten, -Aufklebern und -Graffitti. Auch das Medienecho in den USA ist geteilt. So wimmelt es z.B. in den Regionalzeitungen in Seattle von WTO-kritischen Berichten. In Anbetracht der Uneinigkeit vieler Verhandlungspartner darf man gespannt sein, in welchem Klima das Treffen der "Jahrtausend-Runde" vonstatten gehen wird.

E-commerce und Neue Medien

Natürlich lassen es sich die Herren der Welt nicht nehmen, auf ihrem Treffen in Seattle auch über das "in" - Thema der letzten Monate zu diskutieren. Elektronischer Handel steht auf der Tagesordnung der WTO-Verhandlungen. Dabei sind natürlich die Industrienationen vorne weg. Sie machen die Regeln und den Gewinn, doch zu wessen Lasten? Eine kleine Übersicht zum Thema WTO & E-commerce.

Position der USA:

Sie spielen eine führende Rolle in der Diskussion. In den Vereinigten Staaten verfügen mehr als 40% der Menschen über einen Internetanschluß. Demnach stehen die Unternehmen staunend vor einem neuen, riesigen Markt, den sie bedienen wollen. Die VerbraucherInnen dort sind bereit, das Internet auch als "Kaufhaus" zu nutzen. Verbraucherschutz und Sicherheit für die NutzerInnen spielen in der politischen Auseinandersetzung eine untergeordnete Rolle - dem entsprechen auch die US-amerikanischen Vorschläge für internationale Regelungen. Selbstregulierung und ein kaum abgesteckter rechtlicher Rahmen für den Internethandel sind die Hauptforderungen. Deshalb ist es kaum verwunderlich, daß die in den USA gängige Praxis als Verhandlungsbasis gilt: der Gerichtsort und dessen Rechtsnorm ist bei einem Streit im Internethandel immer jener des Händlers. Ein US-Unternehmen kann es sich kaum vorstellen, für mögliche Mängel oder Schäden seines Produktes in dem jeweiligen Land vor Gericht zu stehen, aus dem das Produkt bestellt wurde. US-UnternehmensvertreterInnen fordern sogar den Schutz von Unternehmen vor dieser Regelung - sie würde kleinen Unternehmen schaden.

Die EU hingegen geht mit einheitlichen Regelungen und mit der Forderung nach stärkerem Verbraucherschutz in Seattle an den Start. Den EuropäerInnen wird dabei vorgeworfen, die richtigen Weichenstellungen für den e-commerce in der ganzen Welt zu blockieren. Die Rückständigkeit in der Verbreitung des Netzes spiegelt sich auch in den Zahlen der NutzerInnen wieder. In der EU gibt es nur in ca. 8% der Haushalte Internetanschluß, in den USA sind es 4 mal so viele. VerbraucherschützerInnen machen hierfür den Mangel an Sicherheit verantwortlich, der sich in den niedrigen NutzerInnenzahlen ausdrückt.

Für die Konzerne Europas stellt die Verhandlungsposition der EU eine nicht hinnehmbare Blockade ihres Handelns dar, so daß sie - wie in so vielen anderen Themen auch - die Verhandlungsposition der USA befürworten.

Damit setzt sich die EU wenigstens in Teilen für einen Schutz der KundInnen ein, während die USA komplett die Forderungen der "e-Industrie"übernimmt.

Was kommt am Ende raus? Ein wirtschaftsfreundlicher Kompromiss läßt sich schon jetzt absehen und somit die EU-Position als reines Tarnmanöver entlarven. Denn, wenn es keine Einigung über ein internationales Abkommen gibt, bleibt alles beim Alten. Somit bestehen die USA auf dem Prinzip "country of origin" und alle Unternehmen aus den USA werden, falls es zu einen Rechtsstreit kommt, weiterhin vor einem US-Gericht verklagt.

Doch all das kann die übertriebenen Erwartungen in den e-commerce-Sektor nicht überdecken. Die international agierende Gartner Group warnte jüngst in einer Studie vor überzogenen Erwartungen in den elektronischen Handel. Schon im Frühjahr nächsten Jahres werde sich die Hysterie um den e-commerce lichten, wenn "3 von 4 geplanten Internethandelskonzepten nicht so wie gedacht funktionieren". Die Gartner Group prognostiziert einen schnellen Abschwung des Hypes, und eine einigermaßen flächendeckende Nutzung des Netzes zu Buisnesszwecken erwarten die Unternehmensberater erst nach 2004.

Vielleicht bleibt ja dann doch noch etwas Zeit, über andere Modelle des Internethandels nachzudenken. Zum Beispiel über Japans Vertriebswege. Dort wird zwischen KonsumentIn und HändlerIn noch eine Ausgabestation für die Waren geschaltet. Hierfür wird das sehr eng geflochtene Netz von gut ausgestatteten lokalen Einzelhandels-Geschäften genutzt.

Seattle Daily: (vom 30.11.1999) + (Nachtergänzung), (vom 1.12.1999), (vom 2.12.1999), (vom 3.12.1999), (vom 4.12.1999)

 

Resumee der Verhandlungen und der WTO-Kritik (5.12.):

USA und Protestierende haben gewonnen Anmerkung:

Diese Zusammenfassung greift drei Aspekte heraus und hat keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Mehr Informationen zu den verschiedenen AkteurInnen der WTO-Konferenz und Hintergrundinformationen zu den einzelnen Themen sowie interessante Links sind unter www.ilka.org/themen/seattledailyweb.html zu finden.

In diesem Papier:

1. Die Strategie der USA

2. Protestbewegung in Seattle: Wer gegen wen, das Castor-Prinzip und die Strategie der Polizei

3. Kritik an der Kritik

 

1. Sieg der USA mit Sozialstandard-Forderungen

Die USA haben gewonnen. Denn das Ergebnis entspricht ihrem Traumergebnis: Die am Ende der letzten großen Verhandlungsrunde in Marrakesh geschlossenen Themen Landwirtschaft und Dienstleistungen, die sogenannte built-in agenda, wird sowieso verhandelt - auch wenn in Seattle keine neue Verhandlungsrunde eröffnet wurde. Über mehr wollten die USA gar nicht reden. Bei zu vielen Themen hatten sie Angst, sich die Erfolge neu erringen zu müssen, wie z.B am TRIPs-Abkommen deutlich wird. Erst jetzt scheinen viele Länder zu merken, was sie eigentlich für ein Abkommen über die intellektuellen Eigentumsrechte unterschrieben haben: Nicht ein faires Recht zur Sicherung von diesen Eigentumsrechten für jedeN, sondern ein Schriftstück, mittels dessen Biopiraterie unterstützt wird. Wäre über dieses Thema geredet worden, hätte sich auch der Unmut geäußert. Und genau das wollten die USA vermeiden.

Den Vereinigten Staaten wird denn auch vorgeworfen, die Verhandlungen absichtlich destruktiv begleitet zu haben, damit eine Einigung auf eine gemeinsame Tagesordnung unmöglich wird. Die Vorwürfe fangen damit an, womit die Konferenz begonnen hat: Die Demonstrationen. Die USA hätten das Ausmaß absehen können und hätten im Vorfeld mehr verhindern müssen. Auf der inhaltlichen Ebene war der Vorschlag, Kinderarbeit zu verbieten, schon eine Provokation gegenüber der Zweidrittelwelt. Dieses Verbot allerdings noch mit Sanktionen wirksamer durchsetzen zu wollen, ließ den Hut vieler Delegierter dieser Länder wütend in die Höhe schießen.

Interessant ist die Dynamik dieser Forderung allemal. US-Präsident Clinton, wie auch die US-Außenhandelsbeauftragte Barshefsky wurden nicht müde zu beteuern, daß der friedliche Teil der DemonstrantInnen berechtigterweise ungelöste Probleme anspreche, zu denen Antworten gegeben werden müssen. Gerade im Vorlauf zu den Sozialstandards dann Thema Nummer eins, um die Proteste für die eigenen Zwecke zu vereinnahmen. Scheinbar also Themen von der Straße aufgreifend, kommt von US-amerikanischer Seite am Donnerstag der Vorstoß in Sachen Kinderarbeit. Das Paradoxe: Kinderarbeit einfach zu verbieten heißt, Armut zu vergrößern. Denn in vielen Gebieten kann eine Familie nicht ohne die (oft extrem gering) bezahlte Arbeit ihrer Kinder leben. Bei einer Lebenserwartung von teilweise unter 40 Jahren ist es dementsprechend kurzsichtig, schlicht ein Verbot aller sogenannter Minderjähriger zu fordern. Viel mehr würde helfen, die Rechte dieser Kinder zu sichern, wie die Rechte auf gewerkschaftliche Organisation und kollektive Lohnverhandlungen ebenso allen anderen ArbeitnehmerInnen zu Gute kämen. Ein anderes Verbot etwa wäre mittels einer Argumentation, die sich an Menschenrechten orientiert, wesentlich wichtiger: Das Verbot von Zwangsarbeit. Damit würde in den Industrieländern aber nicht nur Kriegs-und Zivildienst in Frage gestellt, ebenfalls stünde die gängige Zwangsarbeit in vielen Knäste zur Disposition. So bestätigt sich die Befürchtung, die viele VertreterInnen der Zweidrittelwelt zum Thema ´Sozialstandards" bereits im Vorfeld äußerten: Das Schlagwort wird mißbraucht und protektionistisch im Sinne des Nordens eingesetzt.

2. Überraschender Etappensieg der Protestierenden

Die Proteste haben überraschend einen Etappensieg errungen. Zuerst hat wohl kaum jemand damit gerechnet, daß so viele Menschen gegen die WTO demonstrieren würden. Erstens, weil das Thema so abstrakt erschien. Kein Beschluß der Politik, kein Ereignis vermochte gerade zum Ende dieses Jahrzehnts mehr als einige Spendengelder, vielleicht noch eine Menschenkette mobilisieren. Bei den EU-Treffen der Staats- und Regierungschefs etwa kam es noch 1997 zu ähnlichen Protesten in Amsterdam wie jetzt in Seattle, während die Demonstrationen im Köln Mitte diesen Jahres eher diffus wirkten und nur eine geringe Schlagkraft entwickelten.

Wider die Trennung von ´militantem' und ´verständlichen' Protest

Die Proteste fanden entlang der ganzen Bandbreite an Themen statt, die die WTO abdeckt: Umwelt, Medien und Kultur, VerbraucherInnenschutz, wie auch Landwirtschaft, Gentechnik und Patentierbarkeit; die Frage der ökonomischen Verteilungsungerechtigkeit wurde gestellt. Die Mischung war bunt: von Industrielobby bis zum Schilkrötenschutzaktivisten, von staatstragenden NRO bis zu Aktionsgruppe war alles vertreten. So verwundert die Vielstimmigkeit der Protestchöre nicht. ´Im Anschluß an einen friedlichen Marsch von etwa 40.000 Gegnern der WTO-Tagung störten militante Demonstranten die Anfahrt der Konferenzteilnehmer, indem sie Straßenkreuzungen blockierten und uns sich aneinanderketteten." (taz, 2.12.1999, S.1) Solche oder ähnliche Kommentare in den Medien zeugen jedoch von Unkenntnis der Situation. Auch Clinton hat bei seinem Versuch der Vereinnahmung der Proteste immer wieder zwischen verständlichem Protest und der Militianz als Inkarnation des Bösen unterschieden. Zuerst einmal bleibt festzustellen, daß nicht von einem einzigen verletzten Polizisten die Rede war, aber inzwischen weit über 500 Menschen im Knast sitzen, weil sie gegen die WTO demonstriert haben. Es hat kaputte Fensterscheiben gegeben. Es hat ein paar friedlich brennende Müllcontainer gegeben, die immer von DemonstrantInnen umzingelt waren und nicht etwa gegen die Polizei eingesetzt wurden. Und all das bei völlig unverhältnismäßigen Maßnahmen, wie die nächtliche Ausgangssperre seit Dienstag nacht. Das Verbot des Kaufes und Besitzes von Gasmasken zeigt doch nur zu gut, worum es der Polizei ging: Die Demonstrationen so effektiv wie möglich zu unterbinden mit welchen Maßnahmen auch immer.

Die Polizei hingegen hat geknüppelt, einzelne willkürlich aus der Menge gezogen und auf dem Asphalt mit dem Gesicht zum Boden liegend erniedrigt, Polizeipferde eingesetzt, Massen an Tränengas eingesetzt, nachbestellt und eingesetzt. Selbst die Militärtruppe ´National Guards' rückten zur Verstärkung Mitte der Woche an. Die Proteste wurden von der Polizei massiv militarisiert. Ohne Gründe zu nennen wird in in Zeitungen in den USA wie auch in der EU von der Militanz der DemonstrantInnen gesprochen.

Die Strategie, die KonferenzteilnehmerInnen am Eintritt in die Verhandlungsräume zu hindern, stellte sich als überaus erfolgreich dar. Am Dienstag mußte die Eröffnungsveranstaltung abgesagt werden, etliche Treffen konnten nicht stattfinden. Damit war die erste Schlappe für die WTO-PlanerInnen offensichtlich.

Hätte es nur eine militante StörerInnengruppe gegeben, wie etwa die obige Beschreibung glauben machen lassen will, dann wäre ein weiträumiger Einlaßstopp für die WTO-Delegierten und die Presse technisch gar nicht möglich gewesen. In Seattle war es die breite Masse an WTO-GegnerInnen, die die Konferenz blockieren wollten und es letztlich teilweise geschafft haben.

Nach dem Castor-Prinzip waren die Proteste überaus erfolgreich: Mehrere Millionen Dollar Sachschaden und Geschäftsausfall sowie die Verzögerung der Veranstaltung, obwohl viel an der Einbeziehung der NRO gearbeitet wurde. Das führt dazu, daß beim nächsten Mal hoffentlich eine noch größere Protestwelle von noch militarisierender Polizeigewalt verdrängt, eingeknastet und gewaltsam zurückgehalten werden muß, um sie zu stoppen. Damit wendet sich dann hoffentlich - ähnlich wie bei den Anti-Castor-Aktionen - das Blatt der öffentlichen Wahrnehmung und die Polizei kann als das wahrgenommen werden, was sie bei solchen Einsätzen ist: Eine Prügeltruppe, die nach politischer Anordnung die Straßen ohne Rücksicht auf Verluste freiräumt. Und damit muß sich auch die Legitimität solcher Art Veranstaltung in Frage stellen lassen.

3. Kritik an der Kritik

Es gibt Argumente der WTO-KritikerInnen, die nicht an der Wurzel des Problems anpacken und sich leicht von rechten GlobalisierungskritikerInnen vereinnahmen lassen. So wird oft die Un-Demokratie der WTO angeprangert und ausgeführt, sie entreiße den Nationalparlamenten die Macht. Bei dieser Analyse bleibt leider völlig unbeleuchtet, wer die AkteurInnen dieses ´Entreißens' sind: Die VertreterInnen der Nationalparlamente selbst haben sich schließlich zur Gründung dieser Institution und ihrer Politik entschieden. Aber diese Kritik verklärt noch mehr: Würde es keine internationale Organisation der Neoliberalisierung geben, dann setzten das die Parlamente auf nationaler Ebene durch. Die gleiche Politik würde dann einfach ein bißchen ineffektiver nicht auf globaler, sondern auf niedrigeren Entscheidungsebenen durchgesetzt.

Die Lobbystrategie vieler NRO scheint zweifelhaft. Während NRO heute soviel Einfluß attestiert wird wie nie zuvor, ist diese scheinbare Macht doch erkauft. Der Preis war die Aufgabe von wichtiger Kritik. Mögen viele Partikularinteressen per NRO nun leichter an die EntscheidungsträgerInnen heranzubringen sein. Doch diese Einflußmöglichkeiten sollten nicht mit Einfluß verwechselt werden: Denn eine fortschrittlichere Politik läßt sich parallel zu der gestiegenen Anerkennung der NRO nicht erkennen: Die WTO trifft jedenfalls keine der ersehnten Entscheidungen für ein faires Handeln, was letztlich allen Menschen zugute kommt, anstatt sich am Profit der Multinationalen Konzerne zu orientieren.

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SEATTLE DAILY erscheint in der Woche vom 28.11.99 - 05.12.99 täglich . ILKA SCHRÖDER, MdEP/MEP * Rue Wiertz, ASP 8 G 253 * 1047 Brüssel - Tel.: 0032.2.284 7449 * Fax: 0032.2.284 9449 or/oder Postfach 080417 * 10004 Berlin * Tel.: 0049.30.2096 1340, Bitte beachten Sie auch Ilka Schröders Homepage: (www.ilka.org)

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Emanzipation Humanum, Version Dez. 99, Kritik, Anregungen zu Form und Inhalt, Dialog sowie unveränderter Nachdruck bei Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht. Übersetzung in andere Sprachen erwünscht. Kürzungen und Änderungen nach Absprache möglich.


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