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Perspektiven der Erinnerungsarbeit aus Sicht der "dritten Generation".

 

 

Keinen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit!

 

 

Von Alexander Götz, Swantje Helbing, Christoph Moosbauer und Christian Simmert

 

 

Mit dem Gesetz zur Entschädigung ehemaliger ZwangsarbeiterInnen hat die Bundesrepublik ihre Verantwortung für die deutsche Vergangenheit angenommen. Sie wird sich mit diesem Gesetz zu drei Vierteln staatlicherseits an den vereinbarten 10 Milliarden beteiligen - zur Hälfte direkt, zu einem Viertel durch die steuerliche Absetzungsmöglichkeit der Zahlungen der Unternehmen als Betriebskosten. Jetzt ist es an der deutschen Wirtschaft, ihren Teil kollektiv und unabhängig von der individuellen und konkreten historischen Schuld beizutragen, um damit zumindest finanziell ihrer Verantwortung gegenüber den ehemaligen ZwangsarbeiterInnen nachzukommen.

Dies sollte ein Versöhnungsakt mit starkem moralischem Impetus sein. Nun sieht es allerdings eher danach aus, als wolle sich die deutsche Wirtschaft nur auf Staatkosten von allen etwaigen Rechtsansprüchen freikaufen sowie Boykotten vor allem der US-amerikanischen Bevölkerung vorbauen. Dies schadet nicht allein dem weltweiten Ansehen Deutschlands, es ist auch ein fataler Rückschritt im Bewusstseinsbildungsprozess unserer Gesellschaft. Denn statt um historisches Bewusstsein und Demokratiefragen kreist die Debatte inzwischen unverbrämt um juristisch-finanzielle Absicherungsfragen. Dabei ist uns allen klar, die wir eine ganz persönliche Beziehung zur Deutschen Bank oder auch dem Hersteller unseres Autos haben: Die fünf, sprich zweieinhalb Milliarden DM sind Peanuts für die deutschen Unternehmen. Die Frage nach der Übernahme von Verantwortung der öffentlichen Hand wie Privatwirtschaft in unserem Land für das Gemeinwohl stellt sich von Neuem. Dabei könnte gerade eine erfolgreiche Stiftungsinitiative für uns als dritte Generation, die schon bald alleinige Trägerin der Erinnerungsarbeit sein wird, eine zentrale Voraussetzung für deren Fortsetzung sein.

 

Mit dem Regierungswechsel nach der Bundestagswahl 1998 ist nicht nur "eine" Regierung von "einer" Opposition abgelöst worden, sondern es kam auch erstmals eine Generation an das Regierungs-Steuer, die Krieg und Naziterror weder als Täter noch als Opfer selbst erlebt hatte. Nicht nur die Regierung, auch der Bundestag verjüngte sich. Mit zahlreichen Abgeordneten aus der Dritten Generation &emdash; vor allem im rot-grünen Lager &emdash; haben sie mehr "zeitliche Distanz" zur deutschen Vergangenheit. Für das Selbstverständnis dieser Generation der heute etwa 30-jährigen wurden vor zehn Jahren mit dem endgültigen Ende des kalten Krieges und der Wiedervereinigung ein entscheidender Unterschied zur Vorgängergeneration geschaffen. Erstmals ist dadurch eine Generation in ihrer übergroßen Mehrheit im Grundkonsens über das Grundgesetz und die historischen Konsequenzen der Naziherrschaft aufgewachsen. Zugleich droht der Holocaust, als das historische Kernerlebnis der Deutschen im 21. Jahrhundert scheinbar in eine große Distanz zur heutigen Lebenswirklichkeit zu rücken. Wie haben sich die hier beschriebenen drei Nachkriegs-Generationen gegenüber dem historischen Gebot des Erinnerns verhalten und wie verhalten sie sich heute? Und was wird Erinnerung in Zukunft bedeuten?

 

 

Mit der Zwangsarbeiterentschädigung ist die Debatte um die Deutsche Vergangenheit nicht beendet &emdash; sie muß neu beginnen!

Die Erinnerungsarbeit wurde bisher maßgeblich von den ZeitzeugInnen gestaltet. Die 68-er als Nachkriegskinder arbeiteten sich vorerst an der "Macht und Täterschaft" ihrer Eltern, und dabei primär Väter, ab. Zum Thema Erinnerungsarbeit fanden sie nicht unbedingt einen Zugang. So konnte denn auch der Widerspruch zwischen Anklage und Erinnerung, zwischen Schuld und Verantwortung nie aufgelöst werden. In der deutschen Linken dominierte zudem ein fundamentaler Antiimperialismus, der sich immer auch gegen den Staat Israel richtete und damit eine Verständigung mit dem jüdischen Teil der Opfer aus ideologischen Gründen schwierig machte. Auf der Rechten stemmten sich jahrzehntelang Relativierer mit aller Kraft gegen die Anerkennung der deutschen Verantwortung, indem sie versuchten, eigene Verbrechen mit eigenem Leid, wie dem der Vertriebenen, aufzuwiegen.

So bleibt festzustellen, dass selbst noch die Bubis-Walser Kontroverse fast ausschließlich von der Kriegsgeneration selbst ausgefochten wurde. Hier aber liegt die Hauptgefahr jener Entwicklung: Sterben denn mit den wenigen noch lebenden Opfern (und Täterinnen und Tätern) nicht auch alle diejenigen aus, auf deren AugenzeugInnenberichten die Erinnerungsarbeit bislang fußt? Genau dies zu verhindern ist die Aufgabe jener Dritten Generation. Sie ist aufgerufen, dem Gerede vom Schlussstrich eine unzweideutige Absage zu erteilen. Dazu gehört auch die Absage an jenes Verständnis einer "Berliner Republik", das als Konsequenz der verblassenden Erinnerung an den Holocaust glaubt, nun endlich dürfe Deutschland wieder alles, nun endlich seien alle Optionen bis hin zu weltweiten Kampfeinsätzen wieder offen. So bleibt auch noch festzustellen, ob die plötzliche Wende von dem Grundsatz "Nie wieder Krieg" zu der Aussage "Nie wieder Auschwitz" - hier als Instrument für die Rechtfertigung eines kriegerischen Eingriffs auf dem Balkan - nicht ein fundamentaler Fehler war, der uns direkt in eine moralische Sackgasse geführt hat. Haben die Menschenrechte seit Ende der Ost-West-Konfrontation einen immer höheren Stellenwert in der Legitimationsschleife staatlichen Handelns erreicht, so könnte sich der Menschenrechtsdiskursstrang gerade vor dem deutschen historischen Kontext "selbst aufhängen" &emdash; mit nachhaltigen Folgen.

Die Dritte Generation erfüllt einige Voraussetzungen, um sich dieser schwierigen Aufgabe zu stellen. Die Anklage der heute die Politik bestimmenden 68er an ihre Eltern hat sie zwar wahrgenommen und hat sie im Unterricht bei der die westdeutsche LehrerInnenschaft dominierenden 68-er-Generation nachzuvollziehen gelernt. Sie muss sie aber nicht mehr selbst "leben". Zugleich ist es ihr jetzt möglich, ohne Rücksicht auf die verblassten Ideologien differenziert an den Sachfragen unserer Lebenswirklichkeit zu arbeiten. Das heißt keineswegs, dass sie ihre richtungsgebenden Leitlinien verleugnen oder in einem "neoliberalen" Einheitsbrei konturlos verschwimmen muss. Das Differenzieren ist jedoch, vor allem durch den Abschied aller überformten Ideologien mit der Wende, so etwas wie das Markenzeichen dieser Generation geworden. Das wird freilich von den Älteren allzu oft als "unpolitische", weil nicht polarisierende Haltung missverstanden.

In diesem Zusammenhang steht auch das Spannungsverhältnis zwischen der Verdrossenheit an der "klassischen Politik" auf der einen und der hohen Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement in konkreten Projekten - seien sie auch ökologisch, rein lokal oder sozial ausgerichtet. Zwar haben manche als "etablierte" junge Abgeordnete diese Unlust an Parteien ganz offensichtlich überwunden, doch bei der Mehrheit ist dieser Trend nach wie vor nicht zu leugnen.

Dieses neue Verständnis von Politik kann auch dazu führen, dass die noch größer gewordene zeitliche Distanz zum Holocaust in dieser Altersgruppe keinesfalls eine generelle Abkehr von der Vergangenheit bewirkt. Im Gegenteil kann gerade diese Dritte Generation frei von der persönlichen Schuldfrage und ideologischen Auseinandersetzung mit der Generation der Täter auch neue Wege gehen. Der immer noch vorhandene Rassismus, Intoleranz und Diskriminierung schreit förmlich danach, dass die Dritte Generation keinen Schlußstrich zieht, sondern ein neues Kapitel in der Erinnerung aufschlägt. Es soll dabei aber entsprechend einem neuen Selbstverständnis nicht in erster Linie historisch in die Vergangenheit, sondern vor allem moralisch in die Zukunft entwickelt werden. Dies kann nur im Bewusstsein der historischen Verantwortung vor der Geschichte geschehen. Es geschieht auch in dem Bewusstsein, dass es "die Jugend" und damit "die Dritte Generation" natürlich pauschal nicht gibt, dass wir als politisch verantwortlich Handelnde aber die Herausforderung annehmen müssen, den Diskurs über Möglichkeiten zukünftiger Erinnerungsarbeit im öffentlichen Raum mit hoher Priorität zu führen. Dies alles vor dem Hintergrund, dass noch immer rechtsradikale Jugendliche "Ausländer jagen" oder stolz auf sogenannte "National befreite Zonen" sind.

Ausgangspunkt ist die Erinnerungsarbeit in allen ihren vielfältigen Formen, die bewusstseinsbildend wirkt und vor allem auch als Basis für die Diskussion aktueller Themen dienen kann. Nur dieser Brückenschlag kann für die Zukunft gewährleisten, dass das Interesse für die historische Erfahrung erhalten bleibt, soweit es nicht erst wiedergeweckt werden muss. Erfahrungen aus der Arbeit der Gedenkstätten, dass gerade an einem Ort wie Buchenwald Jugendliche über die aktuellen Probleme ihrer Umgebung diskutieren wollen, bestätigen diese Position.

Die Zeit für die Bewältigung dieser Aufgabe ist knapp bemessen. Denn schließlich wird schon in wenigen Jahren das Erinnern ohne direktes Zeugnis der dabei Gewesenen auch für die vierte und die fünfte Generation erhalten bleibt. Dies muß die Transferleistung der heute jungen, Dritten Generation, für zukünftige Generationen sein.

 

 

Eine multiethnische deutsche Gesellschaft bedeutet neue Aufgaben und Möglichkeiten für die Erinnerungskultur

Auch mit der doppelten Staatbürgerschaft und der immer deutlicheren Erkenntnis, dass Deutschland Einwanderungsland ist, wird ein Paradigmenwechsel in der Erinnerungsarbeit und dem durch die Bildungsinstitutionen vermittelten Geschichtsverständnis notwendig. Ging der Geschichtsunterricht an deutschen Schulen bislang davon aus, "deutsche" Schülerinnen und Schüler mit deutschem Hintergrund über den Nationalsozialismus und den Holocaust zu unterrichten, wird er sich in Zukunft endlich auch auf multiethnische Klassen einstellen müssen. Das hat Implikationen für die Curricula, die didaktischen Instrumente, die Unterrichtsmittel und stellt entsprechend neue Herausforderungen an die LehrerInnenaus- und vor allem &emdash;fort- und &emdash;weiterbildung. Wie werden deutsche Schülerinnen und Schüler zum Beispiel türkischer Herkunft in Zukunft mit den Themen Drittes Reich und Genozid umgehen? Was wird es für ihre deutsche Identität bedeuten? Inwieweit wird die Vergangenheit der Herkunftskultur hierbei eine Rolle spielen, so zum Beispiel der mit deutscher Hilfe von den Türken begangene Genozid an den Armeniern? Inwieweit wird die Schule als staatliche Bildungsinstanz auch diese Dimension als Lernstoff aufnehmen müssen und können? Und wie kann bei dieser unbestreitbar notwendigen Neuorientierung wirksam dem Verdacht eines neuen Relativismus entgegengewirkt werden?

Gestehen wir allen deutschen Kindern ihre unterschiedliche kulturelle und ethnische Identität zu und wollen wir Integration und nicht Assimilation, die die Dekulturation der Herkunftskultur voraussetzt, werden Schwerpunkte des Geschichtsunterrichts je nach ethnischer Zusammensetzung der Schulklassen individuell gesetzt werden müssen.

Dabei wird es wohl auch vor allem um das "Wie" und nicht nur das "Was" des Geschichtsunterrichts gehen &emdash; Kommunikation zwischen den Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrenden wird immer wichtiger werden, um einerseits jeder Schülerin, jedem Schüler die Möglichkeit zu geben, eine eigene Identität zu entwickeln, aber andererseits auch die Möglichkeit zur Erörterung innerhalb der Klasse und später im gesamten öffentlichen Raum zu geben. Hierzu ist es notwendig, eine gemeinsame oder zumindest von allen verstandene Sprache zu entwickeln, um den Diskurs überhaupt zu ermöglichen. Gleiche Fragestellungen werden an das wichtige Symbol im Herzen Berlins gerichtet werden müssen &emdash; an das Holocaust Mahnmal. Es muss allen und besonders auch den jungen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes die Möglichkeit zur Identifikation geben und dazu beitragen, eine gemeinsame Perspektive aufgrund der deutschen Geschichte für eine gemeinsame demokratische Identität und Zukunft zu entwickeln.

Es waren die Worte des Alt-Bundespräsidenten Roman Herzog am 28.1.1999 im Bundetag und die Walser-Bubis-Debatte, die eine Gruppe junger Abgeordneter dazu brachten, sich in die parlamentarischen Auseinandersetzung um das Holocaust-Mahnmal einzumischen oder sich an der Debatte um die (so späte) Entschädigung von ZwangsarbeiterInnen zu beteiligen. Es geht bei allen Diskussionen nicht nur um Vergangenheit, sondern auch um die Bedeutung der Vergangenheit für die Zukunft. Deshalb darf die junge Generation diese Debatten nicht den "alten Männern" überlassen. Gerade die junge und vor allem kommende Generation wird immer wieder Wege finden müssen, um ihren Umgang mit dem Holocaust zu finden und Lehren zu ziehen. Erfahrungen in Israel zeigen, welchen Weg die verschiedenen Generationen dort gegangen sind. Der Dialog und Erfahrungsaustausch mit Israel aber auch der osteuropäischen Staaten ist ein wichtiger Bestandteil für die Zukunft der Erinnerungsarbeit. Es wird an der jetzt jungen Generation, den Nachgeborenen der Täterinnen und Täter wie Opfer liegen, ein neues, tragfähiges Verhältnis zu entwickeln und zu etablieren.

 

 

Außenpolitische Dimensionen: Solidarität mit Israel - Verantwortung auch gegenüber den Ländern Osteuropas

Auch für die Dritte Generation, die wir am Holocaust schuldlos sind, gilt die besondere Verantwortung Deutschlands vor der Geschichte. Daraus lassen sich auch Prioritäten für die jetzige und zukünftige deutsche Außenpolitik ableiten. Eine der obersten Prioritäten muss dabei die Solidarität mit Israel sein und bleiben. Denn es darf nicht sein, dass gerade Deutschland dem Staat Israel Hilfe und Partnerschaft verweigert, wenn das nötig und gefragt ist. Das heißt aber natürlich nicht, Israel unkritisch gegenüberzustehen, wenn es um Menschenrechtsfragen oder etwa die Besatzungs- und Siedlungspolitik geht.

In dieser Partnerschaft eröffnen sich für die "Kinder Deutschlands" deren Zukunft Bundespräsident Johannes Rau "an der Seite der Kinder Israels" sehen möchte, ganz neue Möglichkeiten des Dialogs. Noch vor wenigen Jahren ergab sich aus der Solidarität mit Israel und den traditionell guten Beziehungen der SPD wie auch der Bündnisgrünen zu den Palästinensern ein scheinbar unauflösbarer Widerspruch. Durch die Anerkennung des Staates Israel von Seiten der Palästinenser und die Bestätigung des palästinensischen Rechts auf einen eigenen Staat durch Israel ist dieser Widerspruch wesentlich entschärft worden. Wir können daher heute Probleme offen ansprechen, die sich noch vor Jahren einer Diskussion von Deutschen mit Israelis entzogen. Diese Chance auf allen Ebenen zu nutzen ist die wichtigste Aufgabe deutscher Außenpolitik im Verhältnis zu Israel.

Aber auch andere Länder verdienen in diesem Zusammenhang besondere Beachtung. Die östlichen Nachbarn Deutschlands haben ihren jüdischen Bevölkerungsanteil durch den Holocaust fast völlig verloren. Auf ihrem Boden hat dieses größte aller Verbrechen stattgefunden und durch Krieg und Terror haben sie unendliches Leid sowie unwiederbringbare materielle, menschliche und kulturelle Verluste erlitten. Auch nach dem Kalten Krieg war dies noch ein wesentliches Hindernis für eine Verständigung. Genau wie im Verhältnis zu Israel ergeben sich aber auch hier gerade für die jüngere Generation neue Handlungsverpflichtungen und -möglichkeiten, weil keine persönliche Schuld mehr zwischen uns und unseren Nachbarn steht. So kann die Situation von Minderheiten in Deutschland genau wie in den Ländern Mittelosteuropas vor dem Hintergrund der gemeinsamen Geschichte gesehen werden. Gerade hier wird dennoch auch in Zukunft ein egoistisches Beharren auf dem deutschen Eigeninteresse ungute Erinnerungen wachrufen. Um dies zu vermeiden muss bei allen Erklärungen gegenüber den Ländern Mittelosteuropas immer wieder klargestellt werden, dass Deutschland sich in der Kontinuität seiner historischen Verantwortung und daher auch in besonderer Weise zur Solidarität verpflichtet sieht. Auch außenpolitisch hat ein Schlußstrich unter die Vergangenheit nichts zu suchen. Eine Instrumentalisierung der Stiftungsinitative, um Debatten endgültig zu begraben, kann nicht im außenpolitischen Interesse liegen.

 

 

Zukunftsprojekte der Erinnerungsarbeit

Die Möglichkeiten des direkten Kontaktes mit der Generation der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden immer seltener. Damit steht die jüngere Generation vor der Aufgabe, neue Formen des Erinnern ohne den unmittelbaren Zugang zu den authentischen Erlebnisberichten der Täter- und Opfergeneration zu entwickeln. Diejenigen Überlebenden, die über viele Jahrzehnte bereit waren, Zeugnis abzulegen vor jungen Menschen, haben ihnen damit einen sprachlichen Zugang zu der Thematik ermöglicht. Gemeinsam konnte darum gerungen werden, den Gefühlen in Gedanken und Begriffen einen sprachlichen Ausdruck zu verleihen.

Trotzdem stellen wir nach wie vor fest, dass im öffentlichen Raum, überall dort, wo Erinnerungsarbeit meist als staatlicher Auftrag in ritualisierter Form geleistet wird, diese von der Generation der "alten Männer" und damit auch von deren Bewusstsein dominiert wird. Viele junge Menschen fühlen sich so zum pietätvollen Schweigen verdammt, einige haben eine derart große Distanz zu dem Thema entwickelt, dass sie sich fragen, welche Bedeutung dieser Teil der deutschen Geschichte für sie haben soll, soweit sie sich überhaupt damit beschäftigen. So sollen inzwischen laut einer Emnid-Umfrage 14 Millionen Deutsche über 14 Jahre nicht mehr in der Lage sein, den Holocaust zeitlich einzuordnen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung musste in einer Umfrage feststellen, dass 20% der befragten Jugendlichen noch nie etwas vom Holocaust gehört hatten.

 

Dies macht deutlich, dass unserer Generation eine große Aufgabe bevorsteht: Die unwiderrufliche Einbeziehung des Holocaust als integralen Bestandteil der deutschen Geschichte in die deutsche Identität. Diese Aufgabe wurde uns jungen Abgeordneten, als wir im Zuge der Holocaust-Mahnmaldebatte nach Israel reisten, als eine der wichtigsten Botschaften mit auf den Weg gegeben. Aus der Auseinandersetzung mit dem Holocaust junger Menschen der zweiten und dritten Generation in Israel können wir lernen: Um das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern und damit ihre eigene Sprachlosigkeit zu überwinden, haben einige von ihnen angefangen, ganz neue Formen zu entwickeln. So zum Beispiel im ästhetischen Ausdruck des Tanzes oder des Theaters, in dem sie zunächst den unmittelbaren, körperlichen Umgang mit der Thematik suchten um dann sehr spärlich und sehr bewusst Sprache mit einzubeziehen. So kreiste die tänzerische Auseinandersetzung des Tanzprojektes "aidé memoir" des Kibbuz Gaaton um das Wort "raus", ein anderes Projekt in Akko, das Theaterstück "Arbeit macht frei", machte durch sein Sprachwirrwarr der älteren wie jüngeren jüdischen Israelis deutlich, wie sehr auch hier um Worte, um Semantik, um Strukturen gerungen wird, wie sensibel und weiterhin traumatisiert das jüdisch-israelische Bewusstsein nach wie vor ist. Diese Projekte machen deutlich, wovon Erinnerungskultur in Deutschland lernen kann. Ein wichtiger Baustein hierfür ist der Zukunftsfonds der Stiftungsinitiative, der für neue, innovative Erinnerungsprojekte genutzt werden muss.

 

 

Die Sprachlosigkeit überwinden

Für die deutschen ZuschauerInnen bedeutet die Begegnung mit künstlerischen Formen der Auseinandersetzung mit dem Holocaust einen neuen und unmittelbaren und auch oftmals unbekannten Zugang zu der Thematik, ist doch eine Ästhetisierung des Holocaust meist das Letzte, an das junge Menschen in Deutschland denken würden. Die Projekte treffen die Gefühle der jungen ZuschauerInnen, sie treffen auf die Sprachlosigkeit der meisten jungen Menschen, brechen diese einerseits auf, verstärken sie aber zunächst vielleicht auch erst einmal. Vom "pietätvollen Schweigen" über die bewusst erlebte "Sprachlosigkeit" kann so der Weg zu einer Auseinandersetzung nicht nur mit den historischen Fakten, sondern darüber hinaus mit der eigenen Identität, der eigenen Sprache führen. Im Dialog mit den jungen Israelis wird ein sensibler Umgang mit Sprache, Reflexion der Semantik und, zumindest längerfristig, vielleicht auch die Möglichkeit der Entwicklung einer eigenen Begrifflichkeit möglich. Denn im Ringen um die "richtigen" oder "angemessenen" Worte wird immer wieder deutlich, dass diese fehlen, dass Begriffe wie "Schuld", "Verantwortung" oder "Schande" das Erlebte, die Gefühle nicht ausdrücken, mit denen sich Jugendliche identifizieren können und auch wollen.

Diese Art von Projekten, in denen wie im Kibbuz Gaaton mit jungen Menschen aus verschiedenen Ländern über Ausdrucksformen gerungen wird, ist für die traditionelle deutsche Erinnerungsarbeit sicherlich neu. Sie kann das Schweigen durchbrechen und einen neuen, hoffentlich identitätsstiftenden Zugang ermöglichen. Die Projekte machen aber auch deutlich, und dies ist für viele vielleicht eine neue Erkenntnis, dass die Folgen des Holocaust nicht mit den Überlebenden aussterben, sondern auf vielfältige Art und Weise an die nächsten Generationen weitergegeben werden.

 

 

Den Holocaust auf Gegenwart und Zukunft beziehen

 

Vom Bewusstsein des Holocaust aus müssen wir uns - so wie das in dem beschriebenen Projekt im Kibbuz Gaaton geschehen ist, für "zivilisatorische Fragen" öffnen. So ist die schiere Möglichkeit des scheinbar undenkbaren Verbrechens immer auch Anlass, über den heutigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung generell nachzudenken. Haben wir im immerwährenden Prozess der Demokratisierung unserer jeweiligen Gesellschaften einen Stand erreicht, der eine Wiederholung des Naziterrors unmöglich macht? Sind die Machtstrukturen, die seine Voraussetzung waren, wirklich überwunden? Welchen Preis wollen wir zahlen für den Ausgleich mit unseren Nachbarn, beziehungsweise für den Aufbau einer neuen Zivilgesellschaft - etwa in den Reformstaaten Osteuropas oder auch in Südamerika? Und wie sind wir heute bereit, den Aufbau jüdischer Gemeinden in Deutschland zu unterstützen? Alle diese Fragen müssen von der jüngeren Generation in der zunächst historischen Diskussion über den Holocaust gestellt werden. Diese Fragen müssen aber auch innerhalb der jungen Generation in Deutschland debattiert werden, mit jungen Menschen in Ost und West, mit "deutschem", mit Migrationshintergrund. Es ist klar, dass gerade die Verbindung von Begegnungs- und Erinnerungsarbeit besonders geeignet ist, den Dialog und damit neue Sichtweisen auf diese grundsätzlichen Fragen zu ermöglichen. Und nur das Bewusstsein des Holocaust verhindert dabei alle einfachen Antworten, jedes allzu bequeme Ausruhen auf dem Erreichten, das gerade für die "älteren" Demokratien und die wohlhabenderen Staaten vielleicht die größte Gefahr darstellt.

 

 

Freiwilligenarbeit wird Brücken bauen und füllt Erinnerungsarbeit mit Leben

Die Überlebenden sind ein entscheidendes Bindeglied, um neue Perspektiven für die jungen Generationen in Deutschland und Israel zu entwickeln. Deshalb ist es bedeutsam, die verbleibende Zeit zu nutzen und möglichst viele Begegnungen junger Menschen aus Deutschland mit Überlebenden zu ermöglichen. Dies geschieht zum Beispiel in der freiwilligen Arbeit junger Menschen im Rahmen eines außereuropäischen Freiwilligendienstes in israelischen Alten- und Pflegeheimen, ganz besonders mit psychisch kranken Überlebenden des Holocaust. Es ist aber auch notwendig, die Erfahrungen dieser jungen Freiwilligen für die nachfolgenden Generationen zu dokumentieren und zugänglich zu machen. Geschichtswerkstätten oder &emdash;konferenzen wären hier eine von vielen denkbaren Formen, die eine junge Perspektive auf die Thematik ermöglichen könnten.

Jugendaustauschprogramme und Freiwilligenarbeit in den osteuropäischen Ländern können seit Beginn diesen Jahres verstärkt über das EU-Aktionsprogramm "Jugend" stattfinden. Wichtig ist hierbei sicherzustellen, dass nicht nur Kinder gut situierter Eltern Zugang zu den Projekten haben, sondern ein möglichst breites Spektrum von Jugendlichen angesprochen wird. Die Gedenkstätten- und Projektarbeit der letzten Jahre hat aber auch gezeigt, dass der Holocaust in den osteuropäischen Ländern oftmals als Anlass für grundsätzliche Transferfragen genutzt wird. Diese Möglichkeit der Auseinandersetzung trägt nicht unerheblich zur Demokratisierung dieser Länder, wie auch sicherlich im Bewusstsein der jungen deutschen Freiwilligen, bei. Aber: Auch LehrerInnen z.B. aus Chile fragen sich angesichts des Holocaust, welche Möglichkeiten die post-pinochetsche Gesellschaft ihres Landes hat und suchen die Auseinandersetzung mit den anderen BesucherInnen der Gedenkstätte. Entsprechend berichten die Träger von Erinnerungsprojekten von der Wichtigkeit möglicher Folgeprojekte, die bei Finanzierungsfragen, so dem im Rahmen der ZwangsarbeiterInnenentschädigung einzurichtenden Zukunftsfonds, immer "mitgedacht" werden sollten. Davon einmal ganz abgesehen, dass aus unserer Sicht Grundlage jeder zukunftsorientierten Erinnerungsarbeit die finanzielle Absicherung der Gedenkstättenarbeit ist.

Die in Israel vereinbarte Koordinationsstelle für den israelisch-deutschen Jugendaustausch zeigt hier den richtigen Weg auf. Allerdings sind weiterhin einige rechtliche Hindernisse für deutsche Freiwillige in außereuropäischen Ländern sowie Freiwillige aus dem Ausland in Deutschland auszuräumen, um mehr jungen Menschen einen Freiwilligendienst zu ermöglichen. Wichtig ist, weitere Zielgruppen wie junge deutsche MigrantInnen, SpätaussiedlerInnen und auch junge Menschen mit sozialen Benachteiligungen oder geringem Bildungsniveau anzusprechen. Die pädagogischen Begleitmaßnahmen müssen dazu entsprechend angepasst, die Träger dabei aber auch mit staatlichen Mitteln unterstützt werden. Hierbei sollte Israel aufgrund der besonderen historischen Verknüpfung eine besondere Rolle zugeschrieben werden. Ein Freiwilligenentsendegesetz könnte hier ein weiterer Schritt hin zu einer positiv besetzten "Normalisierung" des Verhältnisses zwischen Deutschland und Israel sowie den Ländern Osteuropas sein.

Die Erinnerungsarbeit muss sich in den nächsten Jahren den Herausforderungen stellen und den Dialog zwischen den Generationen fördern. Das Gesetz zur Entschädigung von ehemaligen ZwangsarbeiterInnen darf keinen Schlussstrich unter die moralische Verantwortung der Wirtschaft und der gesamten Gesellschaft ziehen. Dies stellt vor allem den Zukunftsfonds innerhalb der Stiftungsinitiative vor große Herausforderungen, entlässt aber Politik, Gesellschaft und Wirtschaft nicht aus ihrer Verantwortung.

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